Nachtglut: Roman (German Edition)
mit einem freundlichen Lächeln an. »Er hat im Moment sehr viel zu tun, weißt du.«
»Aber bestimmt nicht so viel, daß er mich nicht sehen will.«
»Im Moment, junger Mann, geht es nicht.«
David wandte sich Anna zu. »Ich will Jack aber sagen, daß es mir leid tut.«
Der Kleine, der im allgemeinen leicht zu haben war, hatte seit seinem Tränenausbruch auf der Veranda unentwegt vor sich hingeschnieft. Er bereute es, Jack gesagt zu haben, er hasse ihn, und wollte dafür um Verzeihung bitten. Mit tausend Fragen hatte er sie bombardiert, auf die sie keine Antwort gewußt hatte.
Wann Jack zurückkomme?
Würde er überhaupt zurückkommen?
Ob Jack wisse, daß er ihn in Wirklichkeit gar nicht hassen würde?
Ob sie zu Jack böse gewesen sei? Ob er sich deshalb gefreut habe, wegzufahren?
Warum er mit den Polizisten mitgefahren sei?
Ob sie Jack ins Gefängnis stecken wollten?
Und so ging es fort und fort, bis Anna meinte, aus der Haut fahren zu müssen. Was sollte sie ihm sagen? Daß Jack aus freien Stücken und ganz selbstverständlich mitgegangen
sei? Oder daß man ihn verhaftet hatte und ihm gar nichts anderes übriggeblieben war, als den Polizisten zu folgen?
So oder so, David würde furchtbar niedergeschlagen sein. Sie versuchte, ihn zu trösten, aber nichts half. Er ließ sich nicht ablenken. Als seine Verzweiflung unerträglich wurde, schimpfte sie ihn aus. Er weine ja über Jacks Fortgehen mehr als über den Tod seines Großvaters, sagte sie – und bekam sogleich heftige Gewissensbisse. Sie selbst hatte jahrelang mit Delray unter einem Dach gelebt; aber ihr Schmerz, als sie mit ansehen mußte, wie Jack unter dem Verdacht, ein Verbrechen begangen zu haben, von den Polizisten abgeführt wurde, war weit intensiver gewesen als die Gefühle, tags zuvor an Delrays Grab.
Nicht bereit, einfach abzuwarten, was weiter geschehen würde, hatte sie beschlossen, den Sheriff aufzusuchen und zu versuchen, konkrete Auskünfte zu erhalten. Zur Beruhigung ihres Gemütes war sie vorher auf dem Friedhof vorbeigefahren. Delrays Grab sah noch schmerzhaft frisch aus, wenn auch die Blumen in der glühenden Hitze bereits zu welken begannen. Sie schlug David vor, sie auf den Gräbern seines Opas, Großmutter Marys und seines Daddys zu verteilen. »Meinst du nicht, daß Opa auch den anderen seine Blumen gern gönnen würde?« hatte sie gefragt, und David hatte mißmutig genickt.
Den Jungen hatte das Hin- und Herschleppen der Kränze vorübergehend abgelenkt; Annas Gedanken jedoch kreisten beständig um die Frage, ob Jack wirklich getan haben konnte, wessen ihn die Polizei offensichtlich verdächtigte.
Sie hätten ihn nicht abgeholt, wenn sie nicht von seiner Schuld überzeugt wären. Gab es Beweise dafür, daß er bei der Vergiftung der Kühe beteiligt war? Wie hatte er so etwas tun können? Und aus welchem Grund?
Krampfhaft suchte sie nach einem Motiv und fand keines.
Jack hatte ihr offen ins Gesicht gesehen und die Beschuldigung zurückgewiesen, aber vielleicht log er. Normalerweise
konnte sie sehr gut in den Gesichtern der Menschen lesen. Hatte ihre Zuneigung zu Jack sie blind gemacht? War ihr irgend etwas in seinen Zügen, seinen Augen, seinem Verhalten entgangen, das auf einen nichtswürdigen Charakter hinwies?
Wenn er wirklich unschuldig war, warum hatte er dann so nervös reagiert, als gestern abend Ezzy Hardge vorbeigekommen war? Kaum hörte er, wer an der Tür war, da hatte er erklärt, er habe noch zu tun, und sich durch die Hintertür verdrückt.
Sie hatte gehofft, er würde nach Ezzys Besuch wiederkommen. Liebend gerne wollte sie da weitermachen, wo sie durch den ungelegenen Besuch des früheren Sheriffs unterbrochen worden waren. Jack sollte sie noch mehr küssen.
Als schließlich all ihre Hoffnung auf Jacks Rückkehr erlosch, hatte sich ihr ganzer Zorn gegen Ezzy gerichtet. Oder war sein Besuch ein Segen gewesen? Vielleicht hatte er es verhindert, daß sie einem Mann auf den Leim ging, der grausam und herzlos war und hinterlistig genug, einem Rancher die Herde zu vergiften.
Das mochte sie indessen von Jack Sawyer einfach nicht glauben. Erst dann würde sie es glauben, wenn sie ihm persönlich gegenübertrat. Sie wollte ihn direkt fragen, ob er diese Gemeinheit begangen hatte, und wenn ja, warum. Sie wollte ihm in die Augen sehen, wenn sie die Frage stellte. Es ging ihr um nichts anderes als die Wahrheit!
Aber der Beamte, der vorne in der Zentrale saß, ließ sich nicht erweichen. Höflich, aber entschieden
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