Nachtglut: Roman (German Edition)
akzeptierte sie. Niemals würde sie sich bei einem Gespräch auf die gesprochene Sprache allein verlassen können. Die Tatsache, daß sie taub geboren war, schränkte ihre Möglichkeiten ein – aber sie verurteilte sie nicht zur Stummheit.
Zu lange hatte sie andere, sogar ihren kleinen Sohn, für sich sprechen lassen. Das mußte ein Ende haben. Sie mußte lernen, für sich selbst zu sprechen. Unbedingt.
Augenblicklich öffnete sie ihren Mund und probierte zum erstenmal seit Jahren wieder ihre Stimmbänder aus. Sie spürte die Vibration, als die Luft über sie hinstrich, und wußte, daß sie einen Laut geformt hatte. Gut, daß sie das Geräusch, das dabei herausgekommen war, nicht hören konnte – sonst hätte sie wahrscheinlich sofort die Flinte ins Korn geworfen.
Zögernd rief sie sich ins Gedächtnis, daß Tausende Gehörlose sich ausschließlich auf die Gebärden- und Zeichensprache verließen und niemals versuchten, das Sprechen zu erlernen. Und sie lebten gut damit.
Aber in ihrer Kindheit hatten sie und ihre Eltern gemeinsam entschieden, daß sie die Gebärdensprache mit Lippenlesen und gesprochener Sprache verbinden würde. Taubstummenlehrer und Privatlehrer hatten ihr Unterrricht gegeben. Stundenlang hatte sie, wie jetzt, vor dem Spiegel gesessen und sich bemüht, die Anweisungen geduldiger, verständnisvoller Therapeuten umzusetzen.
Sie hatte rasche Fortschritte gemacht und sich eine beachtliche Ausdrucksweise angeeignet. Dann war Dean gestorben. Aus Ängstlichkeit und Selbstmitleid hatte sie die Fertigkeiten brachliegen lassen, die sie sich mit soviel harter Arbeit erworben hatte. Anna hatte sich gegen Delrays egoistischen Wunsch, sie in einer Gefangenschaft des Schweigens zu halten, nicht aufgelehnt. Das erkannte sie jetzt. Sie war den Weg des geringsten Widerstands gegangen.
Es brauchte eine Menge Mut, sich das einzugestehen. Und es brauchte noch mehr Mut, sofort in den Spiegel zu blicken und sich nicht nur der unmöglich scheinenden Aufgabe zu stellen, die vor ihr lag – sondern auch ihrer Besorgnis vor dem Scheitern.
Mit tiefem Einatmen zwang sie sich, aufrechter zu sitzen. Fang mit dem Grundlegenden an, sagte sie sich. Zuerst die bilabialen Verschlußlaute. P und B. Der erste Laut war stimmlos, der zweite stimmhaft.
P. Wie bildete man ein P? Unterkiefer abwärtsziehen und Mundhöhle erweitern, ohne die Lippen zu öffnen. Dann die Lippen mit einem Ausatmen aufspringen lassen. Sie versuchte es. Im Spiegel sah es richtig aus. Beim zweitenmal hielt sie ihre Finger etwa zwei Zentimeter vor die Lippen, um den Luftstrom zu spüren. Ja, das fühlte sich richtig an. Aber klang es auch so?
Jetzt ein B. Dieser Laut verlangte die gleiche Lippenbewegung, aber gleichzeitig mußten die Stimmbänder aktiviert werden.
Konzentrier dich, Anna. Du kannst es. Du weißt, wie es geht.
Sie legte eine Hand an ihren Kehlkopf, wo sich die Schwingungen ertasten ließen; versuchte es noch einmal und bewegte beim dritten Versuch gleichzeitig die Lippen. Zuviel Luft? Dann wiederholte sie das ganze, hielt dabei die Fingerspitzen nahe an ihre Lippen und verminderte den Luftausstoß. Ja, diesmal hatte es sich besser angefühlt. Aber war es auch richtig?
Ihre Hand schien ihr unendlich schwer zu sein. Sie ließ sie in den Schoß fallen und dort liegen. Ihre Schultern erschlafften. Plötzlich fühlte sie sich tief erschöpft, gewiß mehr durch emotionale Anspannung als körperliche Anstrengung. Auch für die kleinste Bewegung war sie einfach zu müde.
Unverwandt starrte sie in den Spiegel, und plötzlich kamen ihr die Tränen. Würde es ihr je gelingen, sich verständlich zu machen? Oder gäbe sie sich doch der Lächerlichkeit preis? Würde sie den Menschen, mit denen sie zu sprechen versuchte, Unbehagen einflößen, so daß sie sich verlegen und mitleidig von ihr abwandten?
Schlimmer noch, würde ihr Sohn sich eines Tages ihretwegen genieren?
David nahm ihre Behinderung als etwas Selbstverständliches hin, weil er nichts anderes kannte. Aber was würde geschehen, wenn er nächstes Jahr in die Vorschule kam? Ihretwegen würden die anderen Kinder ihn verspotten. Sie würden über seine Mutter lachen und sagen, die kann ja nicht mal reden.
Anfangs würde er wahrscheinlich hitzig für sie in die Bresche springen. Aber ganz sicher würde der Tag kommen, an dem er sich schämen und ihr grollen würde, weil sie anders war; an dem er wünschen würde, seine Mutter wäre wie alle Mütter!
Auf jeden Fall würde ihre Stummheit
Weitere Kostenlose Bücher