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Nachtglut: Roman (German Edition)

Nachtglut: Roman (German Edition)

Titel: Nachtglut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Brown
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er erwachsen geworden war – immer auf Abruf, stets auf dem Sprung. Er war ein Einzelgänger, ein Abenteurer, ein unsteter Wanderer ohne Bindungen. Seine gesamte irdische Habe hatte in seinem Lieferwagen Platz. Er ging, wohin er wollte, und machte halt, wann und wo es ihm beliebte. Wenn ihm ein Ort gefiel, blieb er. Wenn er ihn leid war, zog er weiter. Jack hatte einen Führerschein und eine Sozialversicherungsnummer, aber kein Bankkonto und keine Kreditkarte. Das Geld, das er verdiente – durch Jobs, die ihn gerade reizten –, reichte ihm.
    Bei Tagesanbruch, als Rio Bravo sich dem Ende näherte, war er aufgestanden, hatte sich rasiert und geduscht und in der Doughnutbäckerei gegenüber vom Motel gefrühstückt. Bei einer Tasse gutem Kaffee hatte er seinen inneren Streit mit einem Kompromißentscheid beigelegt: Es war eine Schnapsidee und riskant obendrein; aber er würde trotzdem an ihr festhalten und tun, wozu es ihn trieb.
    Er mußte es tun.
    Im Lauf der Jahre war er viele Male in diese Gegend gekommen, immer auf der Durchfahrt, interessiert und neugierig, aber nie bereit anzuhalten. Und jedesmal, wenn er an der Corbett-Ranch vorübergefahren war, hatte er sich gefragt,
was das für Leute waren, die hinter dem schmiedeeisernen Tor lebten. Aber seine Frage schien ihm nicht so wichtig, daß er haltgemacht hätte, um sich Antwort zu holen.
    Dies war, bei allen Heiligen, der letzte Ort auf Erden, an dem er etwas zu suchen hatte. Wieso hatte er nur das Gefühl, hier sein zu müssen?
    Sicher, Carl Herbolds Gefängnisausbruch. Aber das war nur der Auslöser gewesen. Irgend etwas in seinem Inneren trieb ihn immer wieder hierher. Er hatte versucht, die Verbindung zu vergessen, ihr davonzulaufen, aber sie holte ihn stets erbarmungslos ein. Genauer gesagt, er trug sie mit sich, wohin er auch ging.
    Seine Reisen hatten ihn mit den unterschiedlichsten religiösen Überzeugungen bekanntgemacht. Mit einem Schamanen eines der Stämme in Arizona, der glaubte, im Drogenrausch zeigten sich ihm die Götter, hatte er Peyote probiert. Einen Sommer hatte er als Caddie für einen golfspielenden Rabbi gejobbt, der ihm vom Bund Gottes mit den Menschen und dem verheißenen Messias erzählte. Bei einem Freilicht-Rockkonzert hatte er mit einer Gruppe Theologiestudenten über das Evangelium diskutiert.
    Alle waren tief davon überzeugt gewesen, daß ein höherer Wille ihr Schicksal bestimme; daß ein höherer Wille ihnen zumindest helfe, den rechten Weg zu wählen.
    Jack wußte nicht, welche Religion – ob überhaupt eine – Gültigkeit besaß. Er war nicht imstande, sich einen allmächtigen Gott vorzustellen, der den Kosmos geschaffen hatte, nur um dann die Geschicke der Menschen mit solcher Verdrossenheit und Launenhaftigkeit zu lenken. Ihm war rätselhaft, warum sich Naturkatastrophen ereignen mußten. Er verstand nicht, warum guten Menschen Schlimmes widerfuhr, warum die Menschheit Seuchen, Hunger und Krieg leiden mußte. Und er hatte seine Zweifel an der Erlösung.
    Aber er wußte, daß es die Sünde gab. Und die Schuld, die sie begleitete.
    Man konnte es Vorsehung oder Schicksal oder Gott oder auch schlicht Gewissen nennen. Irgend etwas – ein höherer Wille – hatte ihn getrieben, alles aufzugeben und hierherzukommen, als er erfuhr, daß Carl Herbold auf freiem Fuß war.
    Was als nächstes geschehen würde, stand in den Sternen. Jack wußte es jedenfalls nicht. Selbst in dem Moment, als er unter dem schmiedeeisernen Torbogen hindurchgefahren war, hatte er nicht gewußt, was er an dem ihm unbekannten Ort sagen oder tun würde. Jack hatte keinen konkreten Plan. Er hatte nicht damit gerechnet, in der Einfahrt von Delray Corbetts Ranch auf eine Frau und ein Kind zu treffen. Von jetzt an würde er es nehmen, wie es kam.
    So oder so, in wenigen Sekunden würden die Würfel fallen.
    Als er den Rancher entdeckte, der, im Gras kniend, mit einem widerspenstigen Stück Stacheldraht kämpfte, zögerte er nur einen Augenblick. Dann legte er die Hände um den Mund und rief: »Mr. Corbett?«

5
    D elray Corbett drehte sich herum, als er seinen Namen hörte. Widerwillig richtete er sich auf. Er war ungefähr einen Meter fünfundsiebzig groß, ein Mann Mitte Sechzig, ein wenig schwammig um die Taille, mit stämmigen Beinen und strengem Gesicht. Sein Unmut darüber, einen Fremden auf seinem Weideland zu sehen, war offenkundig. Aber Jack wollte sich von der finsteren Miene nicht abschrecken lassen.
    »Mr. Corbett«, sagte er, dem Mann seine

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