Nachtglut: Roman (German Edition)
angezogen und aus dem Haus geschlichen. Cora verfügte über ein Radarsystem wie eine Fledermaus, mit der sie jede Bewegung und jedes Geräusch, das er machte, unweigerlich aufnahm. Er hatte keine Lust gehabt, sich von ihr vorhalten zu lassen, wie
albern es sei, mitten in der Nacht loszuziehen, um etwas zu erledigen, wofür er sich eine Woche Zeit lassen durfte.
Aber da man ihn nun einmal in den Ruhestand versetzt hatte, sagte er sich, wollte man ihn bestimmt auch nicht mehr sehen – ganz gleich, wie oft man ihm versicherte, daß er im Sheriffsamt von Blewer County jederzeit willkommen sei. Und den anderen auf die Nerven zu fallen oder so ein jämmerlicher alter Knacker zu werden, der sich an den Glanz vergangener Tage klammerte und nicht wahrhaben wollte, daß er weder gebraucht wurde noch erwünscht war – das kam keinesfalls in Frage.
In Selbstmitleid wollte er sich wirklich nicht suhlen, aber genau das tat er wohl jetzt gerade.
Er dankte dem Deputy, als dieser ihm einen dampfenden Becher Kaffee auf den Schreibtisch stellte. »Machen Sie bitte die Tür zu, wenn Sie rausgehen, Frank. Ich möchte Sie nicht stören.«
»Sie stören mich nicht. Ist eine ruhige Nacht.«
Trotzdem zog Frank die Tür hinter sich zu.
Ezzy ging es in Wirklichkeit nicht darum, den Deputy nicht zu stören. Er selbst wollte bei seiner Arbeit unbehelligt sein. Die amtlichen Akten waren selbstverständlich keine Geheimsache, sondern allen anderen Vollzugsbehörden – wie zum Beispiel der städtischen Polizei, dem Ministerium für Innere Sicherheit, den Texas Rangers – zugänglich, mit denen sein Amt zusammenarbeitete.
Aber die Aktenschränke in Ezzys Büro enthielten auch persönliche Aufzeichnungen – Listen von Fragen, die einem Verdächtigen zu stellen waren; Angaben zu Zeiten, Daten, Personen in Verbindung mit einem Fall; Aussagen von zuverlässigen Informanten oder Zeugen, die anonym zu bleiben wünschten. Größtenteils waren diese Aufzeichnungen in einer Art Kurzschrift niedergelegt, die er selbst entwickelt hatte und die nur er lesen konnte – meist mit einem Zweierbleistift auf irgendeinen Fetzen Papier gekritzelt, der zum
betreffenden Zeitpunkt gerade zur Hand gewesen war. Ezzy sah sie so privat an wie ein Tagebuch. Weit anschaulicher als die blumigen Reden, die er sich am vergangenen Abend im Gemeindezentrum hatte anhören müssen, dokumentierten sie sein Arbeitsleben.
Er trank einen Schluck Kaffee, rollte in seinem Sessel zu dem Aktenschrank aus Stahl hinüber und zog die unterste Schublade auf. Die Hefter waren nach Jahren geordnet. Die frühesten entnahm er zuerst, blätterte sie durch, fand sie nicht wert, aufgehoben zu werden, und versenkte sie in dem häßlichen braunen Metallpapierkorb voller Beulen, der schon so lange hier Dienst tat wie er selbst.
Systematisch leerte er eine Schublade nach der anderen und näherte sich unerbittlich dem Jahr 1975. Als er dort anlangte, war der Kaffee in seinem Magen sauer geworden und stieß ihm auf.
Eine Akte unterschied sich deutlich von den anderen; sie war umfangreicher und noch abgegriffener, ein Packen brauner Hefter, die ein breites Gummiband zusammenhielt. Die schmutzgrauen, an vielen Stellen eingerissenen oder welligen Ränder der Hefter erzählten ihre eigene Geschichte: wie oft die Unterlagen herausgenommen und durchgeblättert worden waren, wie oft Ezzy bei ihrem Studium seinen Kaffee über sie verschüttet hatte, wie oft sie wieder zwischen die weniger bedeutsamen Akten in die Schublade hineingequetscht worden waren, nur um sehr bald wieder herausgezogen und neuerlichem Studium unterworfen zu werden.
Er streifte das Gummiband ab und schob es über sein dickes Handgelenk. Dort befand sich bereits ein Kupferarmband, weil Cora behauptete, Kupfer sei gut gegen Arthritis – bis jetzt hatte er allerdings nichts davon gemerkt.
Nachdem er die Hefter in einem Stapel auf seinem Schreibtisch aufgebaut hatte, trank er von dem frischen Kaffee, den der Deputy ihm freundlicherweise gebracht hatte,
und schlug dann den obersten auf. Das erste Blatt war eine Seite aus dem Jahrbuch der High-School von Blewer County. Ezzy erinnerte sich genau an den Tag, an dem er sie aus dem Buch herausgerissen hatte. Abschnitt ›Oberklassen‹, dritte Reihe von oben, zweites Bild links: Patricia Joyce McCorkle.
Sie blickte direkt ins Objektiv, mit einem Ausdruck, als wollte sie sagen, sie hätte ein Geheimnis, das der Fotograf bestimmt liebend gern wissen würde. Unter der Rubrik
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