Nachtglut: Roman (German Edition)
Knie. Einen Moment schien er in Nachdenken versunken, dann sah er auf und fragte: »Wie ist es eigentlich passiert?«
Sie schrieb mehrere Seiten ihres kleinen Blocks voll. Delray hatte sich im Fernsehen die Fünf-Uhr-Nachrichten angesehen. Nach dem Bericht über die Entführung und den Doppelmord in Louisiana hatte er sich entschuldigt und war nach oben gegangen. Ein paar Minuten später war Anna, die ein ungutes Gefühl hatte, ihm gefolgt, um nach ihm zu sehen – und hatte ihn oben im Flur gefunden.
»Gott sei Dank haben Sie gespürt, daß was nicht in Ordnung war.«
Sie schrieb: »Ich habe gemerkt, daß ihn diese Meldung sehr aufregte.«
»Weil Carl Herbold verdächtigt wird, dieses Verbrechen begangen zu haben«, bemerkte Jack.
Es überraschte sie offensichtlich, daß Jack den Grund für Delrays Erschütterung kannte. Neugierig sah sie ihn an.
»Ich weiß, daß es da eine Verbindung gibt«, begann er zu erklären. »Delray und ich haben neulich im Dairy Queen Sheriff Hardge getroffen. Er sagte was von Arkansas und daß der Junge zu schlau wäre, sich hier in die Gegend zu wagen. Er sagte, Delray solle sich keine Sorgen machen. Den Rest hab ich mir selbst zusammengereimt. Dieser Gefängnisausbruch in Arkansas macht ja seit Tagen Schlagzeilen. Aber Delray und ich hatten über anderes zu reden, darum hab ich ihn nicht weiter danach gefragt. Und gestern hab ich dann diese Anspielung von Lomax mitgekriegt. Wie der am Ende auch noch behauptete, daß die Leute hier Delray die Schuld an Herbolds Verbrechen geben.«
Anna schrieb: »Carl ist der Stiefsohn, von dem ich Ihnen erzählt habe.«
»Ich verstehe.«
Obwohl er es aufnahm, als wäre es ihm neu, hatte Anna eher den Eindruck vom Gegenteil. Bei ihren Gesprächen mit anderen verließ sie sich großenteils darauf, die Gesichter und Körpersprache ihrer Gesprächspartner zu beobachten. Sie war darauf angewiesen, die Mimik zu deuten, weil sie ja den Tonfall der Stimme nicht hörte.
Jack log. Er hatte zwar nichts Unwahres gesagt, verschwieg jedoch etwas. Aber wenn er von der Beziehung zwischen Delray und Carl Herbold bereits gewußt hatte, warum gab er es dann nicht zu? Und wenn er wirklich ein Wanderleben führte und nirgends zu Hause war, woher wußte er überhaupt davon? Carl und Cecil verschwanden vor mehr als zwanzig Jahren im Gefängnis. Dean war noch ein Kind gewesen. Selbst er hatte seine Stiefbrüder nur mehr dem
Namen nach gekannt. Aber Jack, ein Fremder von nirgendwo, wußte von den beiden, von denen Delray sich längst distanziert hatte …
Jack Sawyer war am Tag nach Carl Herbolds Flucht plötzlich auf der Ranch erschienen. Zufall?
Es stimmte sie einigermaßen nachdenklich.
21
C ecil Herbold fand, er hätte allen Grund, paranoid zu sein.
Es war sein freier Tag. Aber anstatt das zu genießen und einmal richtig auszuschlafen, war er schon in aller Frühe wach und das reinste Nervenbündel, ehe er überhaupt aus dem Bett fand. Am liebsten wollte er sich in seiner Wohnung verkriechen, obwohl er das Gefühl hatte, die Decke stürze ihm auf den Kopf. Er konnte keinen Moment stillsitzen, aber ihm fiel auch nichts ein, was er hätte tun können, um seine überschüssige Energie loszuwerden. Vor lauter Nervosität konnte er nicht einmal essen.
Dieses ewige Nachdenken! Das war sein Problem. Er hatte zuviel Zeit zum Nachdenken, und wenn er nachdachte, bekam er die galoppierende Paranoia.
Er schlurfte von Zimmer zu Zimmer, spähte durch die Ritzen der Jalousien, um zu sehen, ob das Haus überwacht wurde; doch war ihm die ganze Zeit klar, daß er die Bullen nicht zu Gesicht kriegen würde, wenn sie ihn wirklich beschatteten.
Mehrere Minuten lang beobachtete er die Straße und sah nichts Ungewöhnliches. Der Verkehr bewegte sich wie immer. Kein verdächtig aussehender Lieferwagen parkte am Bordstein, nirgends ein Unbekannter, der tatenlos herumlungerte, überhaupt nichts Auffälliges. Aber diese Typen waren natürlich drauf gedrillt, mit der Landschaft zu verschmelzen. Die verstanden es, sich unsichtbar zu machen, selbst wenn sie einem direkt vor der Nase rumtanzten.
Okay, er konnte sie vielleicht nicht sehen – aber er wußte,
daß sie da draußen lauerten. Er wurde überwacht, das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Wenn sie ihn nicht schon vorher beobachtet hatten, dann jetzt ganz bestimmt.
Gestern morgen hatte er in den Nachrichten von dem brutalen Mord an dem Tankstellenbesitzer und seiner Tochter irgendwo in einem Nest in Louisiana
Weitere Kostenlose Bücher