Nachtglut: Roman (German Edition)
fassen. Carl begann, den Druck zu spüren. Ganz klar, er wär ja kein Mensch, wenn ihn das kaltließe.
Gefaßt zu werden war seine schlimmste Angst. Leute, die kleine Mädchen vergewaltigten und hinterher umbrachten, kriegten nämlich nicht nur die Höchststrafe – sie wurden im Knast zum Freiwild für die anderen Häftlinge, und die Wärter schauten weg. Den Rest seines Lebens würde er entweder zum eigenen Schutz in Einzelhaft verbringen müssen oder jeden Tag vergewaltigt werden. Tolle Aussichten!
Aber niemals würde er in den Bau zurückgehen. Eher machte er Schluß. Dann ließe er sich besser von irgendeinem popligen kleinen Landpolizisten, der ganz scharf drauf war, sich mit dem Ruhm zu bekleckern, einen entflohenen Häftling geschnappt zu haben, eine Kugel in den Kopf schießen. Aber in den Knast kriegte ihn keiner mehr rein. Erschossen zu werden war wenigstens eine schnelle und schmerzlose Angelegenheit. Anders als jeden Tag vergewaltigt zu werden, bis man an Verletzungen oder Krankheit einging.
Natürlich wär’s am schönsten, wenn er weder gefaßt noch umgelegt würde, sondern gesund und munter in Mexiko anlangte. Aber zwischen ihm und Mexiko lag Texas, fast achtzehnhundert Kilometer eines gottverdammten Staats, der ihm seit seiner ersten Jugendstrafe nichts als Unglück gebracht hatte.
Es wäre eine Hilfe gewesen, jemanden da zu haben, mit dem man über diese Ängste reden konnte. Aber Myron – hörte einem genauso interessiert zu wie ein Baumstumpf. Insofern freute er sich darauf, mit seinem Bruder zusammenzutreffen – auch wenn diese Warterei einen total verrückt machte. Cecil würde ihn wenigstens verstehen.
»Morgen ist der große Tag, Myron.«
»Hm.« Myron zupfte an einem Stück Schorf an seinem Ellbogen.
»Wird mal wieder Zeit für ein bißchen Action, was?«
»Klar, Carl.«
»Laß uns ganz früh aufstehen, damit wir es in Ruhe anpacken können. Wir wollen zwar nicht allzubald antanzen und Aufmerksamkeit erregen. Aber auf keinen Fall dürfen wir zu spät eintreffen.«
»Auf keinen Fall zu spät, nein!«
»Ich hoffe nur, Cecil hat alles im Griff. Wenn er das hier in den Sand setzt, bring ich ihn um, auch wenn er mein großer Bruder ist.« Er gab Myron, der ganz mit seinem neuerlich blutenden Ellbogen beschäftigt war, einen Puff, um ihn aufzurütteln. Die farblosen Augen richteten sich auf ihn, schienen aber kaum etwas wahrzunehmen. »Eines mußt du dir merken, Myron!«
»Was denn, Carl?«
»Wenn’s eine Diskussion oder einen Streit darüber gibt, wie was gemacht werden soll, dann tust du, was ich sag. Kapiert?«
»Ja, Carl. Was ich sag.«
»Ich , Myron.«
»Ich.«
»Ach, Scheiße …« Carl warf sich auf die harte Pritsche und starrte zum spinnwebverhangenen Dach empor. Seine Komplizen waren ein hoffnungslos Schwachsinniger und ein Bruder, mit dem immer mal wieder die Feigheit durchging. Hoffentlich war Cecil mittlerweile davon geheilt. Um Cecils willen hoffte er es. Wenn nämlich was schiefginge, würde Cecil diesmal selbst sehen müssen, wie er fertig wurde. Er – Carl – würde nicht noch mal den Kopf für ihn hinhalten. Bestimmt nicht.
Also, Cecil, reiß dich gefälligst zusammen!
24
A nna konnte nicht verstehen, daß man einen schwerkranken Patienten auf die Intensivstation legte. Wie sollte sich bei dem Betrieb, der hier herrschte, bei diesen grellen Lichtern und dem ständigen Lärm, jemand erholen?
Schwestern und Ärzte rannten hin und her, es wurde telefoniert und lautstark verhandelt, eine Putzfrau wischte den Boden, während eine andere die Mülleimer leerte; und durch das ganze Getümmel manövrierte eine unglaublich dicke Frau wie einen Panzer einen hohen Servierwagen aus Metall mit dem Essen für die Patienten.
Als Anna Delrays kleine, von Vorhängen abgeschlossene Kabine betrat, überprüfte eine Schwester gerade den Tropf. Delray war wach. Die Schwester machte eine Eintragung auf seinem Krankenblatt und zog sich zurück.
Anna trat an Delrays Bett. »Ich bin so froh, daß es dir bessergeht«, bedeutete sie ihm.
»Aber sehen tut man’s nicht.« Sein Blick flog über all die Geräte und Schläuche, an die er angeschlossen war.
»Der Arzt sagt, deine Chancen steigen. Du gefällst mir jetzt auch besser als bei meinem Besuch heute morgen.« Sie sah seine Überraschung. »Du hast geschlafen, da wollte ich dich nicht stören. Waren die Untersuchungen unangenehm?«
»Halb so schlimm.«
Mehr sagte er nicht, und Anna drängte ihn nicht zu
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