Nachtglut: Roman (German Edition)
weißes Baumwollnachthemd an. Ihr Haar hing ihr wirr um das vom Schlaf gerötete Gesicht. Sie war außer Atem und bedeutete ihm, schnell zu kommen, wobei sie das Zeichen für Telefon bildete.
»Ich bin gleich da.«
Er lief nur noch einmal nach hinten, um zu pinkeln und in die abgeschnittene Jeans zu steigen, die er am Abend zuvor getragen hatte. Dann rannte er los und holte Anna ein, noch bevor sie das Haus erreicht hatte. Endlich drinnen, winkte sie ihn durch den Flur in das kleine Arbeitszimmer.
David, noch im Schlafanzug, sprach am Telefon: »… weil nämlich wenn man zu hoch schaukelt, bevor man’s richtig kann, fällt man leicht runter, und dann schlägt man sich vielleicht ein Loch in den Kopf und muß genäht werden. Jack hat gesagt, ich kann’s schon ganz gut und darf mich bald richtig gescheit abstoßen, aber meine Mama hat immer noch Angst. Sie ist jetzt wieder da. Sie hat Jack mitgebracht, damit er mit Ihnen reden kann. Tschüs.«
Er reichte Jack den Hörer. »Ich hab’s läuten gehört und bin ganz allein rangegangen. Dann hab ich Mama geweckt, wie die Frau es wollte.«
»Das hast du gut gemacht.« Jack fuhr dem Kleinen durchs
Haar. Dann nahm er den Hörer und nannte seinen Namen. »Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat.«
Am anderen Ende der Leitung war eine Schwester von der Intensivstation. »Ich habe versucht, über die Gehörlosenvermittlung zu telefonieren, um mit Mrs. Corbett selbst zu sprechen. Aber leider habe ich keine Verbindung bekommen«, erklärte sie. »Die Nummer, die hier steht, muß falsch sein. Danach wollte ich Mrs. Baker erreichen, aber sie hat sich nicht gemeldet.«
»Ich werde dolmetschen, so gut ich kann«, versprach Jack.
Anna beobachtete voll ängstlicher Besorgnis sein Gesicht und achtete nicht auf David, der an ihrem Nachthemd zupfte und sein Frühstück verlangte.
»Sicherlich geht es um Delray?« Das Schlimmste erwartend, hielt Jack den Atem an. »Ist er – wie schaut es aus?«
»Es geht ihm heute morgen viel besser. Genauer gesagt, es ging ihm besser. Dann hat die Hilfsschwester, während sie ihn wusch, den gestrigen Besuch seines Stiefsohns im Krankenhaus erwähnt, und daraufhin wurde er sehr erregt. Wenn wir ihn nicht zurückgehalten hätten, wäre er aufgestanden und hätte das Krankenhaus verlassen. Er droht auch jetzt noch damit. Wir hielten es für besser, seine Schwiegertochter zu verständigen. Vielleicht kann sie ihn beruhigen.«
»Ja, vielen Dank für Ihren Anruf! Sie kommt so schnell wie möglich.«
Jack legte auf und sah Anna an. David quengelte immer noch, er sei hungrig und sie solle ihm sein Frühstück machen.
»Hey, Rocket Ranger«, sagte Jack und salutierte. »Bist du mutig genug, eine schwierige Mission zu übernehmen? Was meinst du, kriegst du das mit deinen Cornflakes heute morgen selber hin?«
»Darf ich Capt’n Crunch haben?«
»Warum nicht?«
»Okay!« Er salutierte schief zurück und rannte hinaus.
Anna sah Jack mit banger Miene an. Er spannte sie nicht länger auf die Folter. »Delray geht es gut, aber er ist sehr erregt. Jemand hat ihm nichtsahnend von Cecils Besuch im Krankenhaus erzählt.«
Mit beiden Fäusten an ihren Schläfen fluchte sie leise vor sich hin.
»Sie haben mir das Wort aus dem Mund genommen«, sagte Jack, obwohl sie ihn nicht ansah und nicht wahrnahm, daß er sprach.
Er hatte den ganzen gestrigen Tag keine ruhige Minute gehabt bis zu dem Moment, als sie gegen Mitternacht mit David aus dem Krankenhaus zurückgekommen war. Ohne ihr Wissen war er den beiden gefolgt, als sie nach Cecil Herbolds Überraschungsbesuch ins Krankenhaus gefahren waren. Jack wollte sich überzeugen, ob der Mann tatsächlich versuchen würde, zu Delray vorzudringen. Es hatte ihn nicht überrascht, Herbolds Mustang auf dem Parkplatz des Krankenhauses vorzufinden.
Einige Reihen entfernt hatte er in seinem Pick-up gewartet, bis Cecil Herbold aus dem Krankenhaus gekommen war, in Begleitung eines Polizeibeamten aus Blewer. Kaum war Herbold losgefahren, da hatte sich ihm ein Polizeifahrzeug an den Auspuff geheftet und war ihm bis zur Staatsgrenze von Texas gefolgt. Von da hatte Jack übernommen und war Herbold weitere dreihundert Kilometer auf den Fersen geblieben.
Aber mit jedem Kilometer hatte ihn der Gedanke daran, daß die Ranch so lange unbewacht war, nervöser gemacht. Als er schließlich umdrehte und – sämtliche Geschwindigkeitsbegrenzungen mißachtend – tief erleichtert bei der Ranch anlangte, waren Anna und David
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