Nachthaus
Hawks?«
* * *
Winny
Die Kreatur, die über Winny an der Wand klebte, zischte, und zwischen den Hälften ihres verschlagenen Lächelns kam eine glitzernd graue, röhrenförmige Zunge zum Vorschein. Winny kannte den Zweck dieser Röhre nicht, aber er kannte den Zweck der fiesen Zähne, und er zweifelte nicht daran, dass der Biss weniger furchtbar sein würde als das, was die Zunge ihm antun würde; vielleicht würde sie wie ein Staubsaugerschlauch das Fleisch von seinen Knochen saugen und ihn so ordentlich abgenagt zurücklassen wie die Skelette neben ihm.
Er war gelähmt vor Entsetzen und kam sich noch kleiner vor als sonst. Er wusste, dass er das Schwierigste tun musste, niemals das Einfachste. Aber jetzt ließ ihn seine Philosophie im Stich, denn es schien so, als sei Sterben das Schwierigste, was er tun konnte, und er würde ohnehin sterben, ganz gleich, ob er sich wehrte oder zu fliehen versuchte. Er konnte nicht gegen etwas kämpfen, was so groß und so stark war, und davor weglaufen ging auch nicht. Er hatte nur zwei Wahlmöglichkeiten: einen schnellen oder einen noch schnelleren Tod.
Iris musste ebenfalls den Kopf gehoben und das Ding über ihnen an der Wand gesehen haben. Ihre Hand erbarmte sich. Sie gab den Versuch auf, die Knöchel in seinen Fingern zu zerquetschen, und zupfte mit einem solchen Drängen an seinen verschwitzten Fingern, seinem Handgelenk und seinem Arm, als glaubte sie, er müsse eingeschlafen sein und sie müsse ihn wecken, damit er sie beide verteidigte.
Dann sagte sie etwas, worauf er sich keinen Reim machen konnte: »›Wir gehen jetzt auf die Wiese, um uns von der Sonne trocknen zu lassen.‹«
Als er ihrer zitternden Stimme lauschte, fiel Winny wieder ein, dass Iris nicht die beherzte Heldin der Abenteuergeschichte war, die er in seinem Kopf mit ihr besetzt hatte. Sie war ein Mädchen, das abseits stand, und das würde sie immer sein, denn sie hatte vom Leben ein viel schlechteres Blatt zugeteilt bekommen als er. Er war mager und schüchtern und wusste nie, was er zu anderen Leuten sagen sollte, und er hatte einen Vater, der fast so unwirklich war wie der Weihnachtsmann, aber all das war nichts, überhaupt nichts im Vergleich zu Autismus. Wenn sie es wagen konnte, seine Hand zu nehmen, es wagen konnte, trotz all der Ängste und Irritationen, die sie plagten, in diesem Versteck aus Knochen und moderndem Leichentuch stumm zu bleiben, um Himmels willen, dann konnte er doch wohl etwas mehr tun, als schnell oder noch schneller zu sterben.
Die Bestie klammerte sich mit beiden Füßen und einer Hand an die Wand und streckte den linken Arm langsam nach Winny aus. Sie presste die Spitze eines langen Fingers mitten auf seine Stirn, direkt über der Nasenwurzel, fast wie ein Geistlicher, der den Gläubigen am Aschermittwoch ein Aschekreuz auf die Stirn malt. Der Finger war so kalt wie der Tod.
Iris war schwach und Winny nicht stark, aber er war stärker als sie, und das hieß, er war es ihr schuldig, sie zu verteidigen. Sein Vater war stark, wirklich stark, und er ließ sich auf Kneipenschlägereien ein und tunkte die Köpfe von Leuten in Toilettenschüsseln, aber man musste Kraft nicht immer missbrauchen. Man konnte seine Kraft, wenn man auch noch so wenig davon besaß, dafür einsetzen, das Richtige zu tun, sogar dann, wenn man wusste, dass man keine Chance hatte, den Kampf zu gewinnen; sogar dann, wenn man von Anfang an zum Untergang verurteilt war, konnte man aufstehen und mit seinen mageren Armen herumfuchteln, denn darum ging es doch im Leben – aussichtslose Dinge trotzdem zu versuchen. Jetzt hatte er also die schwierigere Herausforderung gefunden, die er annehmen musste, das Schwierigste vom Schwierigen: das Richtige zu tun, obwohl keine Hoffnung auf Erfolg bestand und keine Belohnung zu erwarten war.
Winny nahm Iris wieder an der Hand und packte fest zu, zog sie von der Wand fort, huschte mit ihr zwischen den Skeletten, die sie umrahmten, hinaus, rannte ein paar Schritte, trat Patronenhülsen aus Messing zur Seite und drehte sich um, um der Bestie gegenüberzutreten. Sie blieb auf der Wand sitzen, verrenkte sich den Hals und drehte den Kopf nach einer Seite, um sie mit festem Blick zu beobachten; ihre Augen waren eiskalt und dunkelgrau wie der Granit eines Grabsteins.
Winny ließ die Hand des Mädchens los und stieß Iris hinter sich. Er riss das alte Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett hoch und hielt es mit beiden Händen, die Spitze vor sich gestreckt. Er war wie ein
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