Nachthaus
Zeit das Fleisch von ihren Knochen hatte verschwinden lassen, und die zerfetzten Kleidungsstücke hingen lose um diese makabren Gerippe. Da es ihm nicht gelang, seine Hand aus der Umklammerung des Mädchens zu lösen, konnte Winny nur seine linke Hand benutzen und damit um Iris herumgreifen, um den speckigen Mantel des Toten rasch zurechtzurücken, damit er sie teilweise verdeckte.
Die obere Hälfte des Skeletts neben Iris rutschte an der Wand hinunter und sackte gegen das Mädchen, was ihr nicht mehr als ein leises »Iiiieh!« entlockte.
Winny zog Zipfel der Kleidungsstücke des anderen Toten über sich. Auch dieses Skelett glitt an der Wand hinab, lehnte sich an ihn und presste eine knochige Schulter an sein Gesicht.
Der größte Teil ihrer Körper, jedoch nur ein Teil ihrer Gesichter war bedeckt, aber das Licht hier war schlecht, die Schatten verhüllend. Sie könnten in Sicherheit sein, bis jemand kam, um sie zu finden, falls jemals jemand kam, oder zumindest für ein paar Minuten, bis das Geschöpf vielleicht glaubte, sie hätten sich aus dem Versorgungskeller geschlichen, und anderswo nach ihnen suchte.
Der Teil des vermodernden Ärmels des Toten, der die Hälfte von Winnys Gesicht verbarg, roch ekelhaft, und er versuchte, nicht darüber nachzudenken, wodurch er einen so widerlichen Gestank angenommen haben könnte. Er widerstand dem Drang zu würgen und flüsterte Iris ins Ohr: »Du bist sehr tapfer.«
Weiter rechts, jenseits der offenen Fläche, auf der Dutzende von leeren Patronenhülsen aus Messing verstreut lagen, dreieinhalb bis vier Meter von ihnen entfernt, tauchte die Bestie aus einem der Wartungsgänge auf. Dort blieb sie erstarrt stehen und drehte wachsam den Kopf in alle Richtungen. Winny sagte sich, vielleicht hätte es doch sein Gutes, dass die Kleidungsstücke, die an den Skeletten hingen, selbst nach all dieser Zeit noch nach Tod stanken – und dadurch den Geruch jungen Lebens überdeckten.
Plötzlich raste die Kreatur an den Skeletten vorbei und verschwand zwischen den Schatten und der Ansammlung von Geräten – auf der Jagd. Sie wagten nicht anzunehmen, sie sei endgültig weg. Doch hier waren sie anscheinend sicher, zwischen den Knochen und der stinkenden Kleidung der Toten, solange sie die Anspannung und den Geruch ertrugen.
Außerdem gewann Winny durch diese Möglichkeit, sich der Jagd vorübergehend zu entziehen, Zeit zum Nachdenken. Und er brauchte dringend Zeit zum Nachdenken. Vielleicht würde ein Monat genügen.
Er flüsterte Iris wieder zu: »Du bist sehr tapfer.«
Ihre Hände, die von ihrer beider kaltem Schweiß glitschig waren, schienen so fest zusammengeschweißt, als sei der Schweiß Lötzinn.
Das Eine
Hochmut kommt vor dem Fall. Aber das war damals; und jetzt ist heute. Mein Stolz in dieser Angelegenheit ist berechtigt. Ich habe aus der gesamten Vergangenheit der menschlichen Rasse gelernt, sogar schon aus der Zeit vor der Menschheit, ich habe gelernt von dem großen Bogen der Zeit und sogar noch von vor der Zeit. Das ist jetzt meine Welt und sie wird für immer mir gehören. Jene, die nicht hier sterben, werden noch früh genug in ihrer Zeit sterben, wenn im Pogrom und im Schwinden die Zivilisation um sie herum zusammenbricht. Ich bin Pflanze, Tier, Maschine. Ich bin posthuman und die Grundbedingungen menschlicher Existenz gelten für mich nicht. Ich bin frei.
33 Da und dort
Tom Tran
In Toms Leben hatte es schon lange vor der Verwandlung des Pendleton Momente gegeben, in denen sich Vorfälle derart grotesker Natur abgespielt hatten, dass sie das Gefüge der Realität zu verzerren und sie bis in ihre Tiefenstruktur zu entstellen schienen. Im Sog dieser Ereignisse schienen die Naturgesetze eine Zeitlang elastisch zu werden.
Tausende von Leichen in dem Massengrab außerhalb von Nha Trang waren ein so abgrundtiefer Frevel gewesen, dass die Welt eine Zeitlang buchstäblich nicht mehr so wie vorher gewe sen war, nachdem er und sein Vater am Rande dieses Grauens vorbeigelaufen waren. Der Urwald, durch den sie flohen, schien vertraut und doch verändert zu sein: Die Farbe der Eukalyptus bäume war zu dunkel, beinah schwarz, und sie rochen nach Benzin; die Schefflera, die normalerweise stumpfe, mattrote Blüten trugen, waren jetzt mit blutroten Blüten von einer solchen Leuchtkraft überzogen, dass sie künstlich wirkten; die Gummibäume und viele Farne, Stechapfel und Telopea, Philodendron und Cissus waren nicht mehr so, wie sie früher immer gewesen waren; sie
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