Nachtjaeger
einen Schritt auf sie zu tat. Sie spürte, als er mit der Hand nach ihrer Schulter griff, dass er Durga die Kehle zudrücken wollte. Diese Empfindung war so stark, dass sie alles bis in kleinste Detail vor ihrem inneren Auge sehen konnte: wie Durga mit dem Tod rang und schließlich leblos auf dem Teppich zu ihren Füßen lag, wie sein Blut auf dem kalten Holzboden zu roten Lachen gerann, und wie seine Finger in die Luft ragten, reglos und starr.
»Ich bin der Alpha dieser Kolonie, Durga«, fauchte Leander knapp hinter Jenna. »Ich gebe hier die Befehle. Diese Frau steht unter meinem Schutz. Überlegen Sie sich das nächste Mal also genau, was Sie sagen!«
Ehe Durga antworten konnte, meldete sich Morgan mit einer hohen, klaren Stimme hinter ihm zu Wort.
»Die Königin der Ikati hat jegliche Befugnis zu tun, was ihr beliebt. So will es das Gesetz.«
In diesem Moment schien sich die Luft im Zimmer vollends in Eis zu verwandeln.
Leanders Finger zuckten, als er sie in Jennas Schulter bohrte. Keiner bewegte sich, keiner sprach ein Wort. Jenna vermutete, dass sogar keiner mehr atmete. Irgendwo in der Ferne begann ein Hund zu bellen.
Sie hatte plötzlich das Gefühl, als ob sie sich selbst von oben sehen würde – als ob sie als feiner Nebelschleier frei und körperlos über der versammelten Menge an der Decke schweben würde. Ein seltsames Gefühl der Entrückung erfüllte sie und verursachte ihr einen leichten Schwindel. Ihr Blut schien aufgehört zu haben, durch ihren Körper zu zirkulieren und sich stattdessen in einer schweren Masse in ihren Füßen angesammelt zu haben. Sie glaubte, sie wäre vermutlich in Ohnmacht gefallen, wenn sie nicht den Druck von Leanders Hand auf ihrer Schulter gespürt hätte, wie er seine Nägel immer tiefer in ihrer Haut vergrub.
In die erstarrte, verblüffte Stille hinein sagte Christian mit einer Stimme, die wie eine Glocke klang: »Ich wusste es!«
Durga sah Jenna entsetzt an. »Nein. Unmöglich! Sie ist ein Halbblut …«
Viscount Weymouth unterbrach ihn sofort. Seine Stimme klang unsicher. »Tochter des mächtigsten Alpha unserer Geschichte, eines Leibwandlers …«
»Ein Verräter!«, rief Durga. »Der einen Menschen geheiratet hat! Ihr Mischlingsblut ist unrein. Sie kann nicht einmal ein Zehntel seiner Gaben haben. Sie kann nicht Königin sein!«
»Leibwandler?«, murmelte Jenna, ohne jemanden direkt anzusprechen. Sie schwebte noch immer über der Szene. Die Rufe der Männer hallten an den Wänden wider und drangen nicht bis zu ihr durch. Sie stand eindeutig unter Schock.
Alpha.
Halbblut.
Königin.
»So etwas ist früher schon einmal geschehen, Durga.« Weymouths blaue Augen, die blass und rheumatisch wirkten, richteten sich auf Jenna. Sein Gesicht war aschfahl. »Kleopatra, die letzte Pharaonin von Ägypten, war eine Halbblut-Königin. Sie werden sich an sie erinnern, nehme ich an.« Seine Stimme wurde immer leiser. »Der Spruch ist so alt wie unsere Spezies: Blut folgt Blut. Wenn das Blut stark ist, dann sind auch die Gaben stark.«
Er hob die Hand und zeigte mit einem zitternden Finger auf Jenna. »Und ihr Blut ist das stärkste von allen.«
Leibwandler.
Jennas Schockstarre hörte schlagartig auf, und sie kehrte mit einem inneren, dumpfen Schlag in die Gegenwart zurück.
Das Blut begann wieder aus ihren Beinen zu fließen und unter ihrer Haut wie ein Feuer zu brennen. Die Männer starrten sie alle an – ein Raum voll fassungsloser Blicke. Nur einer hinter ihr tobte innerlich vor Zorn. Seine Wut nahm immer mehr zu, pulsierend und pochend. Sein Blick bohrte sich in ihren Rücken wie Messer.
Sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wie glühend Leander sie musterte.
» DAS IST BLANKER UNSINN !«, brüllte Durga. Er wandte sich mit glühendem Blick an Leander. »Reine Fantasie! Woher wollen Sie wissen, dass diese Frau nicht mit den Verbrechern unter einer Decke steckt, die Ihre Schwester entführt haben? Sie hat sich tagelang mit dieser da in ihr Zimmer eingesperrt …« Er wies mit dem Daumen auf Morgan, die inzwischen auf dem Boden kniete, während die Männer um sie herum Jenna schockiert ansahen. Ihr Zorn war vergessen. »Mit einer Frau, die gerade zugegeben hat, Hochverrat begangen zu haben. Mit einer Frau, die Sie in Ihren Rat gewählt haben, mit einer Frau, die alles über uns weiß – unsere Verteidigungsstrategien, unsere logistischen Stärken und Schwächen. Alles!«
Er bedachte Jenna mit einem Blick solch unverstellten Hasses, dass sie beinahe
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