Nachtjaeger
sie bis zehn, ehe sie antwortete.
»Ich habe ihn schon einmal gesehen. Ich war im Supermarkt …«
»Achtung«, unterbrach sie Becky, deren Stimme nun verärgert klang. »Alle Mann an Bord, hier kommt Napoleon.«
Ehe Jenna noch etwas erwidern konnte, zischte ihr eine Stimme ins rechte Ohr.
»Earl McLoughlin wünscht die Hilfe der Sommelière bei der Wahl seines Weines. Wir wollen ihn nicht warten lassen.« Ein Gestank aus Knoblauch und getrocknetem Schweiß stieg Jenna in die Nase.
Sie biss die Zähne aufeinander und warf Becky einen Blick zu. »Ich dachte, wir sollen nicht die Vornamen unserer Gäste verwenden, Geoffrey. Das ist doch angeblich très gauche , oder nicht?«
Geoffrey zitterte geradezu vor Zorn, als er ihre Erwiderung hörte.
»Earl ist nicht sein Vorname, du dummes Kind! Earl ist sein Titel!«, fauchte er. »Es wurde vom Four Seasons angerufen und ein Tisch für ihn reserviert. Das ist ein Aristokrat. Grundgütiger!«
Ehe sie sich zurückhalten konnte, warf Jenna erneut einen Blick in den Spiegel. Der Earl las gerade mit ernster, ausdrucksloser Miene die Weinliste, aber sie spürte, dass er am liebsten laut aufgelacht hätte. Er presste seine vollen Lippen aufeinander.
»Du sprichst ihn entweder mit ›Euer Gnaden‹ oder mit ›Königliche Hoheit‹ an. Sei auf jeden Fall ganz professionell und lächele. Und jetzt los!«
Er scheuchte sie fort, als ob sie eine Taube wäre, die ihn auf einer Parkbank um Brot angebettelt hätte.
Jenna rührte sich nicht von der Stelle.
»Man spricht keinen Earl mit ›Euer Gnaden‹ an, Geoffrey. Und auch nicht mit ›Königlicher Hoheit‹. Das sind Titel, die für einen Herzog und einen König reserviert sind«, erklärte sie kühl und blickte auf seine Glatze.
Geoffrey zog den Mund zu einem überraschten O zusammen, sagte aber nichts. Stattdessen begann er heftig zu blinzeln. Becky hustete in die Hand, um ihr Lachen zu verbergen und wandte sich ab.
Außer ihrem Geschmack für guten Wein hatte Mrs. Colfax Jenna auch noch ein paar andere Dinge über die gehobene Gesellschaft beigebracht.
»Ich werde ihn ›Lord McLoughlin‹ oder ›Sir‹ nennen, wie sich das gehört. Es sei denn, er möchte mit dem Vornamen angesprochen werden, ganz gleich, wie er heißen mag. Es wäre nämlich très gauche , ihn dann noch mit diesen lächerlichen Titeln anzusprechen.«
Jenna genoss den Anblick der roten Flecken, die sich auf Geoffreys Wangen ausbreiteten. Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging ruhigen Schrittes durch das Restaurant zu dem Tisch, an dem Lord McLoughlin saß. Insgeheim versuchte sie jedoch, sich dazu zu zwingen, nicht zu zeigen, wie nervös sie war, oder in Panik auszubrechen.
Der Earl blickte nicht auf, als sie neben ihm stehen blieb. Für einen kurzen Moment betrachtete sie seine langen Finger, die die in Leder gebundene Speisekarte hielten. Sie waren ebenso gebräunt, kraftvoll und elegant wie der ganze Mann.
Ein schwaches Vibrieren breitete sich in ihrem Inneren aus.
»Lord McLoughlin«, sagte sie und blickte in sein schönes Gesicht. »Willkommen im Mélisse. Wie kann ich Ihnen helfen?«
Mit einer geschmeidigen Bewegung legte er die Weinkarte auf den Tisch und sah sie an. Er lächelte – ein echtes, bewunderndes Lächeln –, und das Restaurant schien sich auf einmal in einer Nebelwand aufzulösen, in der nur noch sie beide zu sehen waren.
»Bitte nennen Sie mich Leander.«
Die Stimme, die wie Samt klang, floss honigwarm durch ihren Körper. Seine schimmernden Haare waren länger, als sie in Erinnerung hatte. Sie berührten beinahe seine Schultern. Eine Andeutung von Stoppeln zeigte sich auf seinen Wangen.
Sag mir, dass du mich willst.
»Leander«, wiederholte Jenna. Ihr gefiel es, wie sich sein Name auf ihrer Zunge anfühlte.
Unmöglich, dachte sie. Er ist zu weit weg. Trotzdem …
Sie hob den Kopf und blickte ihn von unten an. »Also nicht ›Euer Gnaden‹ oder ›Hoheit‹?«, fragte sie leichthin, um ihn zu testen.
Sein Lächeln war bereits Beweis genug. Aber seine Worte bestätigten ihren Verdacht.
»Warum der ganze Aufwand mit diesen lächerlichen Titeln? Es ist alles so …« Er schnippte mit den Fingern, während er scheinbar nach dem richtigen Wort suchte. » Gauche. Très gauche . Finden Sie nicht?«
Er lehnte sich über den Tisch und behielt sie genau im Blick, während er sein Kinn mit der Hand abstützte. In dem kurzen Moment bildete sie sich ein, dass er ihr Herz in ihrer Brust schlagen zu hören
Weitere Kostenlose Bücher