Nachtjaeger
vermochte.
»Doch«, erwiderte sie, während sie panisch nachdachte.
Wie hatte er ihre Unterhaltung mit Geoffrey hören können? Wie war das möglich? Sie waren etwa dreißig Meter von ihm entfernt gewesen. Und hatten geflüstert!
Ihr Magen verkrampfte sich, als sie diese Eingebung hatte, die sie jedoch sogleich ignorierte. Es gab niemanden außer ihr, der zu solchen Dingen in der Lage war. Er war nur ein gewöhnlicher Mann.
Und dann waren da noch die rätselhaften Warnungen ihrer Mutter … Nun, ihre Mutter hatte sehr viel getrunken.
Mit dem Handrücken strich sie sich eine Haarsträhne von der Wange und zeigte auf die Weinkarte. »Darf ich Ihnen bei der Auswahl behilflich sein, Leander?«, fragte sie höflich. »Gibt es etwas, das Ihnen besonders zusagt?«
Warum hatte er sie auf dem Parkplatz des Supermarktes so angestarrt? Hatte er sie überhaupt angestarrt? Was tat er hier? War sie verrückt? Bildete sie sich das alles nur ein?
Sein Lächeln wurde noch breiter, und auf seinen Wangen zeigten sich Grübchen. »Durchaus, Miss …?« Er zog die Augenbrauen hoch und wartete.
»Jenna«, erwiderte sie.
»Jenna«, wiederholte er langsam. Sein Blick wanderte einmal über ihren Körper. Dann kehrte er zu ihrem Gesicht zurück, und ein Kiefermuskel zuckte. »Ja, ich denke schon, dass mir da etwas Besonders zusagt.«
Er sprach mit einem britischen Akzent, und doch hörte Jenna einen leisen Singsang in seiner Stimme, der ihr irgendwie bekannt vorkam. Ein Tonfall, den sie nicht einzuordnen vermochte. Die Art, wie er sie ansah, brachte ihr Inneres dazu, seltsame Dinge zu tun.
»Wunderbar.« Sie verfluchte sich, weil ihr die Stimme fast versagte.
»Was darf ich Ihnen heute Abend servieren?«
Zufall? Einbildung? Wer waren die anderen beiden gewesen? Und kam dieser himmlische Duft von seiner Haut?
»Den ’61er Latour.«
Einen Moment lang vergaß sie ihre Überlegungen und blinzelte ihn überrascht an. Der Kellner kam und stellte einen silbernen Korb mit warmen Rosmarinbrötchen auf den Tisch.
»Möchten Sie auch ein Wasser, Sir? Mit Kohlensäure oder ohne?«, wollte der Kellner wissen.
Leanders Augen waren noch immer auf Jennas Gesicht gerichtet. » Rien, merci «, antwortete er geschmeidig.
Der Kellner warf einen Blick auf Jenna, senkte den Kopf und zog sich zurück.
»Der ’61er Latour«, wiederholte Jenna steif und schürzte die Lippen. »Eine ausgezeichnete Wahl.«
Mit siebentausendneunhundertachtzig Dollar war das der bei Weitem teuerste Wein auf der Karte, die immerhin neununddreißig Seiten umfasste.
Er sollte dem Weinangebot des Restaurants im Grunde nur eine gewisse Seriosität verleihen. Niemand, der bei Sinnen war, würde so viel Geld für einen Wein in einem Restaurant ausgeben. Er konnte nicht wissen, ob er überhaupt richtig gelagert worden war. Ein echter Sammler, der sowohl die Kenntnis als auch den Geschmack für etwas so Seltenes und Wertvolles besaß, würde eine derartige Flasche in einem angesehenen Auktionshaus oder direkt vom Château erstehen, um sicherzustellen, dass der Wein auch richtig behandelt worden war.
Selbst die Leute vom Film und die Rapper, die am häufigsten teure Weine bestellten, ohne diese wirklich zu genießen, würden niemals einen Latour auswählen. Sie entschieden sich eher für einen Moëlleux oder einen Screaming Eagle.
Außerdem hatte ein Wein aus dem Jahr 1961 trotz sorgfältigster Lagerung vermutlich bereits seinen Höhepunkt überschritten. Es war lächerlich. Es war mehr als lächerlich.
Leander zog die Augenbrauen hoch. »Spüre ich da eine leichte Überraschung?«
»Überraschung?«, wiederholte sie und zog die vier Silben verächtlich in die Länge.
Hatte er ihren Blick als Überraschung interpretiert? Als Schock? Vielleicht sogar als Ehrfurcht?
Offenbar war es also nur ein weiterer egozentrischer Idiot, der sein Geld wie Konfetti um sich warf, um den Pöbel zu beeindrucken. Sie vermutete, dass er Frauen auf ähnliche Weise behandelte. Wahrscheinlich hielt er sie für beschränkt und überfordert. Damit wäre er der vierte Mann an diesem Abend.
Beinahe hörbar riss Jenna der Geduldsfaden.
»Ich bin keineswegs überrascht. Es ist die perfekte Wahl für Sie«, erwiderte sie, wobei sie das letzte Wort leicht betonte. Sie ignorierte die warnende Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf und lächelte ihn betont liebenswürdig an.
Einen Moment lang runzelte er die Stirn. Doch dieser Anflug von Irritation wurde innerhalb des Bruchteils einer Sekunde von einer
Weitere Kostenlose Bücher