Nachtkalt: Psychothriller (German Edition)
»Sie haben natürlich Recht, ich bin sozusagen dienstlich hier ... aber zu einem Kaffee aus des Meisters Händen würde ich tatsächlich nicht nein sagen.«
Zehn Minuten später saßen sie in dem kleinen Aufenthaltsraum der Gerichtsmedizin, genossen erst einige Schlucke der kubanischen Spezialmischung, dann fragte Dr. Gruber: »Also, was kann ich für Sie tun?«
Mike schilderte den Grund seines Besuches und fragte dann: »Mich interessiert besonders dieser Typ, der Ihnen die Studentenakten gebracht hat. Anja Lange erzählte mir, dass Sie ihn ganz gut beschreiben können. Er ist mein einziger Anhaltspunkt in diesem Fall.«
Dr. Gruber wiegte seinen Kopf leicht hin und her: »Na ja, die Sache ist ja schon einige Tage her, für ein authentisches Phantombild würde meine Erinnerung nicht mehr reichen.«
»Und wenn Sie ihn sehen würden?«
Dr. Gruber deutete ein Nicken an: »Dann würde ich ihn erkennen.«
»Würden Sie mir trotzdem erzählen, an was Sie sich noch erinnern? Ich meine Größe, Statur, Merkmale ... mit irgendetwas muss ich anfangen«, bat Mike.
»O. k., mal sehen ...« Dr. Gruber schloss die Augen und begann: »Der Körper wirkte recht drahtig, die Kleidung war eher billig, wenn ich mich recht erinnere, war es sogar nur so ein Jogginganzug. Die Haare ... kurz waren sie, aber die Farbe und den Schnitt weiß ich nicht mehr. Und an das Gesicht kann ich mich leider kaum noch erinnern ... obwohl, ich meine, die Nase war relativ groß«, der Doktor hielt die Augen noch eine Weile geschlossen, dann schüttelte er den Kopf, »mehr ist da leider nicht mehr.«
»Und wie hat er gesprochen? Sie haben ihn doch sicher angesprochen, als er sich die Leiche ansah.«
»Stimmt«, antwortete Dr. Gruber und sein Gesicht entspannte sich ein wenig, »jetzt, wo Sie es sagen, er hatte einen leichten Akzent. Vielleicht ein bisschen osteuropäisch, aber sicher bin ich mir nicht.«
Dieses Mal war es Mike, der die Augen schloss und versuchte, sich einen Mann nach dieser Beschreibung vorzustellen und plötzlich hatte er eine Idee.
»Wie kommen Sie nachhause?« Die Frage überraschte den Doktor, dennoch antwortete er: »Mit dem Bus, warum?«
»Ich habe da so eine Idee. Würden Sie mir noch eine halbe Stunde Ihrer Zeit schenken und sich von mir mit einem kleinen Umweg nachhause fahren lassen?«
Dr. Gruber dachte darüber nach und stimmte schließlich zu. Er verschloss sein Büro, zog sich eine altertümlich wirkende Jacke über und kurz darauf fuhren sie gemeinsam in Richtung des Industriegebietes am Kanal.
Mike wusste, dass der späte Nachmittag nicht der optimale Zeitpunkt war, dennoch war es einen Versuch wert. Er hatte am Anfang seiner Karriere des Öfteren in diesem Milieu zu tun gehabt, da den Männern dort alles recht war, um sich etwas Geld zu verdienen.
Ein kurzer Seitenblick zu Dr. Gruber zeigte ihm, dass dieser sich zunehmend unwohler fühlte. Durch den leichten Nieselregen spiegelten sich die Straßenlaternen auf dem Asphalt und bildeten dadurch einen noch größeren Kontrast zu den dunklen Ecken des großen Parkplatzes, auf dem nur noch wenige Autos der Fabrikarbeiter standen. Seit Mike das letzte Mal hier am Hafen war, hatten sich noch weitere Firmen am Ufer des Europakanals angesiedelt, doch das Gelände um den Parkplatz hatte sich kaum verändert.
Mike drosselte die Geschwindigkeit und fuhr bis zum hinteren Ende des von Bahngleisen begrenzten Geländes. Dort blieb er stehen und sah sich suchend um, bis er schließlich feststellte: »Sie sind immer noch da.«
»Wer ist noch da?«, fragte Dr. Gruber.
»Moment noch«, antwortete Mike, fuhr bis zu der am weitesten von der Straße entfernten Ecke und stellte den Motor ab. Etwas durch Büsche versteckt, zwischen Parkplatz und Bahngleisen, stand ein improvisierter Unterstand, unter dem einige Männer um ein Blechfass saßen und hin und wieder eine Flasche herumgehen ließen. Natürlich hatten sie das Auto kommen hören, kümmerten sich aber nicht weiter darum.
»Was sind das für Leute?«, fragte Dr. Gruber, dem man deutlich anhörte, wie unwohl er sich hier fühlte.
Mike riss seinen Blick von den Männern los und erklärte: »Tagelöhner, meist aus Osteuropa. Ist der Mann, der bei Ihnen war, dabei?«
Dr. Gruber richtete sich etwas auf und starrte hinaus: »Nein, ich glaube nicht. Er war jünger als die da.«
»Sicher?«, fragte Mike enttäuscht, worauf der Doktor mit der flachen Hand die angelaufene Scheibe frei wischte, um besser sehen zu können. Er
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