Nachtkalt: Psychothriller (German Edition)
dieser Typ erreichen wollte? Von ihrer früheren Unbefangenheit war so gut wie nichts mehr übrig. Wie oft war sie nach Discobesuchen nachts um 3 Uhr alleine nachhause gelaufen, immer mit einem gewissen Gottvertrauen, dass ihr nichts passieren würde. Jetzt sah sie hinter jedem Baum einen Schatten, hinter jeder Hecke eine Bedrohung und selbst in dem kleinen Laden musste sie sich ständig umblicken.
Als sie dann auch noch ein alter Mann versehentlich anrempelte, lagen ihr ein paar wirklich böse Worte auf den Lippen und sie kontrollierte eilig ihre Taschen, um nicht wieder als Diebin dazustehen.
»Gerald geht in Zimmer.« Wie immer nach solchen Ausflügen sah ihr Bruder geschafft aus, was vermutlich mehr an den tausend Eindrücken lag, die sein Hirn verarbeiten musste, als an der körperlichen Anstrengung.
Anja lächelte ihn an: »Ist gut, wir bekommen nachher Besuch und essen daher etwas später.« Geralds Gesicht blieb zwar ausdruckslos, trotzdem klang seine Stimme fast fröhlich: »Gerald mag essen und Besuch.«
Als ihr Bruder nach oben gegangen war, überlegte Anja kurz, ob sie das Haus kontrollieren sollte, doch irgendwie wirkte es heute friedlich und sie verzichtete darauf. Stattdessen trug sie die Einkaufstasche in die Küche, wusch sich die Hände und begann das Abendessen vorzubereiten. Das Einzige, was sie nicht unterdrücken konnte, war immer wieder aus dem Fenster hinaus in den dämmrigen Garten zu blicken. Doch außer den dunklen Umrissen der Bäume und Sträucher war auch dort nichts Ungewöhnliches zu sehen.
Irgendwann riss sie das Telefon aus ihrer Arbeit und ihren Gedanken. Sie legte das Gemüsemesser weg, wischte sich die Hände an einem Küchentuch trocken und griff nach dem Gerät, das auf dem Küchentisch lag. Ohne lange darüber nachzudenken, hob sie ab und atmete erleichtert durch, als sie die Stimme ihrer Mutter hörte. Da sie beschlossen hatte, ihr vorerst nichts von den Vorfällen zu erzählen, begrenzte sich das Gespräch auf ihren Bruder, ihre Schwester und das gebrochene Bein. Nach einer viertel Stunde blickte Anja auf die Wanduhr, versprach ihrer Mutter, sie am nächsten Tag zusammen mit Gerald zu besuchen und beendete das Gespräch. Anschließend schob sie die Auflaufform in den Ofen und deckte den Tisch. Als auch das erledigt war, kam ihr Gerald in den Sinn. Normalerweise war immer wieder einmal etwas von ihm zu hören, da er zwischendurch Laute von sich gab, die er nicht unterdrücken konnte. Jetzt aber herrschte oben im Haus völlige Stille.
Anja stellte den Kurzzeitwecker, warf noch einen prüfenden Blick zu dem Herd und stieg dann die Treppe hinauf. Auch hier herrschte fast gespenstische Stille, einzig das Rauschen des Umluftherdes drang aus der Küche, wurde aber immer leiser, je weiter sie die Treppen hinaufstieg.
»Gerald?« Ihr Ruf war zögerlich, aber trotzdem gut zu verstehen. Nichts rührte sich. Oben angekommen, wandte sie sich nach rechts, wo sich am Ende eines kurzen Flurs Geralds Zimmer befand. Alles in ihr rebellierte, als sie leise und vorsichtig die geschlossene Tür öffnete. Obwohl ihr Bruder Dunkelheit nicht mochte und auch nur mit einer brennenden Lampe am Bett schlief, drang jetzt kein einziger Lichtschein aus dem Zimmer. Anja öffnete die Tür noch etwas weiter und brauchte einen kurzen Augenblick, um zu begreifen, was noch nicht stimmte. Ein kalter Luftstrom hatte eingesetzt und sorgte zusätzlich dafür, dass sich die feinen Härchen in ihrem Nacken aufstellten. Wieder rief sie: »Gerald?«, und dieses Mal zeigte ein leises Poltern, dass er in dem Raum war. Mit einem Mal durchfuhr sie ein Schreck, denn die Kälte konnte nur bedeuten, dass ein Fenster offen stand. Was, wenn ihr Bruder raus auf das Dach geklettert war?
Jede Vorsicht ignorierend, drückte sie die Tür ganz auf und betätigte fast gleichzeitig den Lichtschalter. Gerald stand tatsächlich aufrecht auf seinem Schreibtisch, wobei fast der gesamte Oberkörper nach draußen durch das Dachfenster ragte. Anjas erster Reflex war, ihn anzuschreien, dann besann sie sich. Sie durfte alles, nur nicht ihn erschrecken. Langsam durchquerte sie den Raum, griff seine Jeans und sprach ihn erst an, als sie ihn halbwegs sicher hatte.
Von unten durch das Fenster blickend, fragte sie so ruhig wie möglich: »Was machst du denn da oben?« Gerald zuckte ein wenig zusammen, sah zu ihr herunter und antwortete, als wäre nichts gewesen: »Gerald wollte sich unterhalten.«
Mit einem Schlag war all die Angst
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