Nachtkalt: Psychothriller (German Edition)
Schwester, Anja Lange.«
Wieder einmal wunderte sich Mike, wie gutgläubig die meisten Menschen waren, war aber froh, einfach so hereingelassen zu werden.
Nora Lange war eine recht attraktive Frau und als Mike ihr die Hand gab, konnte er fast nicht anders, als auf den sehr weit herunterhängenden V-Ausschnitt ihres T-Shirts zu blicken.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Nora Lange, wartete aber nicht auf eine Antwort, sondern führte ihn durch ein kleines, aber sehr ordentliches Wohnzimmer bis zum Esstisch, wo sie fragte: »Möchten Sie einen Kaffee?«
Mike nahm dankend an und während sie Kaffeepulver in einen Filter löffelte, fragte sie über die Schulter: »Hat Anja Ärger mit einem Typen, oder warum braucht sie einen Detektiv?«
Mike überlegte kurz, wie er die Sache angehen sollte, blieb dann aber bei der Wahrheit: »Sie wissen noch gar nicht, dass ein Stalker hinter Ihrer Schwester her ist?«
Frau Lange hielt kurz inne, schüttete das restliche Wasser in die Maschine, drehte sich anschließend um und sagte verwundert: »Nein.« Es folgte eine kurze Pause, bis sie anfügte: »Ich muss allerdings gestehen, dass unser Verhältnis nicht das beste ist. Wir haben eigentlich so gut wie nie Kontakt.«
Mike ging nicht darauf ein, sondern fragte: »Dann wissen Sie auch nicht, dass Ihr Bruder Gerald heute Morgen von der Behinderteneinrichtung verschwunden ist?«
»Doch, das weiß ich. Einer der Polizisten, der mit dem Fall zu tun hat, rief mich heute Vormittag an und fragte mich, ob ich etwas darüber weiß oder eine Idee hätte, wo unser Bruder sein könnte.«
Mike sah die Frau skeptisch an: »Sein Verschwinden scheint Sie ja nicht besonders zu beunruhigen.«
Frau Lange winkte ab: »Ach wissen Sie, als wir noch zuhause bei unserer Mutter wohnten, gehörte es fast zur Tagesordnung, nach Gerald zu suchen. Weit weg war er nie und inzwischen kann er sich recht sicher im Straßenverkehr bewegen. Glauben Sie mir, spätestens heute Abend bekommen wir einen Anruf, dass er irgendwo nach etwas zum Essen gefragt hat und zurückgebracht wird.«
»O. k.«, sagte Mike und zog das Foto aus der Innentasche, »kennen Sie dieses Bild? Das sind doch Sie, oder?«
Nora Lange setzte sich eine schmale Lesebrille auf und nahm ihm das Bild aus der Hand. Während sie es begutachtete, sah sich Mike etwas in dem Raum um. Alles wirkte sehr reinlich und es sah so aus, als hätte diese Frau ihr Leben im Griff. Dann fiel sein Blick auf zwei halbleere Gläser, wobei ihm ein Gedanke kam. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, fragte er: »Sie haben also auch keine Idee, wo sich Ihr Bruder aufhalten könnte?«
Statt zu antworten, gab ihm Nora Lange das Foto zurück und sagte: »Das auf dem Bild bin tatsächlich ich. An dem Abend, als meine Mutter ins Krankenhaus kam, war ich noch kurz in diesem McDonalds. Aber wer diese Aufnahme gemacht hat, weiß ich nicht, es ist mir auch niemand aufgefallen.«
Sie hatte kaum zu Ende gesprochen, als hinter einer der beiden weiteren Türen ein leises Klopfen zu hören war. Mike hatte den Eindruck, dass Nora Lange ein wenig zusammenzuckte, trotzdem wiederholte er seine Frage: »Was ist nun mit Gerald, haben Sie eine Idee, wo er sein könnte?«
Sie schüttelte den Kopf: »Nein, da ist er unberechenbar ...«, dann stockte sie, »… das heißt, eigentlich fühlt er sich immer zur Natur hingezogen.«
»Gut, dann werde ich das der Polizei noch mitteilen«, erwiderte Mike, »und wer Ihre Schwester beobachten könnte, wissen Sie vermutlich auch nicht, oder?«
Nora Lange machte ein Gesicht, das ihre Antwort unterstrich: »Nein, das weiß ich wirklich nicht, aber sie hat sich schon früher immer eingebildet, dass ihr jeder Junge hinterherstarrte.«
Mike musste einsehen, dass es keinen Sinn machte, sie noch länger zu befragen, doch wegen einer Sache brauchte er Gewissheit. Er stand auf, tat so, als wollte er sich verabschieden, brach das aber ab und fragte: »Sagen Sie, es ist mir unangenehm, aber könnte ich kurz Ihre Toilette benutzen?«
»Na klar«, antwortete sie lässig und nickte in Richtung der beiden Türen, »das Bad ist links.«
»Danke«, sagte Mike, durchquerte das Wohnzimmer und öffnete die rechte Tür. Für einen kurzen Augenblick glaubte er, Gerald gefunden zu haben, aber der Fuß, der unter dem Bett hervorschaute, gehörte einem kleinen Jungen, der ihn nun mit großen Augen anblickte und noch weiter unter sein Versteck kroch.
Von hinten hörte Mike Frau Langes Stimme: »Das ist das Zimmer
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