Nachtklinge: Roman (German Edition)
sich noch Menschen zwei Straßen weiter hastig bekreuzigten.
Jeder im Palast wusste, was das zu bedeuten hatte: Giuliettas Zofe war gestorben.
Die Bediensteten der beiden Regenten hüteten sich, ins Krankenzimmer zu eilen, und der junge Weißkreuzler, der am vorhergehenden Tag eingetroffen war, um Eleanor die Letzte Ölung zu verabreichen, hatte gebrochene Rippen und einen ausgerenkten Kiefer davongetragen.
Giulietta stand als Erste vor der Tür.
Sie kam in der Dämmerung. Ihr Haar war geöffnet, und sie wirkte nervös, als sie anklopfte, ihren Namen nannte und wartete, bis der Riegel umgelegt wurde und die schwere Tür aufschwang. Sie trat ein, nahm Rosalie in die Arme und hielt das Mädchen fest, das in bitterliches Weinen ausbrach.
»Hast du gehört, dass Gräfin Eleanor gestorben ist?«, fragte Alexa.
Tycho nickte knapp.
»Das ist aber nicht der Grund deines Besuchs, nicht wahr? Du wirst nicht zulassen, dass meine Nichte einen der beiden Prinzen heiratet.«
»Es sei denn, sie wünscht es ausdrücklich.«
»Ein eher unwahrscheinlicher Fall, da ihr die vergangene Nacht und den ganzen Tag miteinander hinter verschlossener Tür verbracht habt.« Alexa erhob sich vom Sofa und murmelte leise: »Hoffentlich warst du zärtlich. Das Mädchen hat es verdient, dass jemand liebevoll mit ihr umgeht.«
Was sollte er darauf antworten?
Tycho hatte ursprünglich fragen wollen, warum die Dogaressa Giulietta von dem Gefangenen erzählt hatte, aber inzwischen hatte er selbst die Antwort darauf gefunden. Alexa hatte herausfinden wollte, ob der Bund zwischen ihm und ihrer Nichte zerbrechen konnte. Nun wusste sie es. Er war aus Giuliettas Schlafzimmer zu ihr gekommen und hatte angeboten, beide Prinzen zu töten.
»Du möchtest Nikolaos und Frederick umbringen?« Sie musterte ihn. »Damit habe ich gerechnet. Deinen Einfällen mangelt es an Finesse. Du musst dich mehr anstrengen, wenn wir langfristig zusammenarbeiten wollen.«
Langfristig zusammenarbeiten?
»Wie sehr liebst du meine Nichte?«
»Mehr als mein Leben.«
»Das wird uns eine Hilfe sein.«
Sie ließ ihn auf einem sattelförmigen Ledersitz mit Holzbeinen Platz nehmen. Das Leder war abgewetzt und dunkel. Aus ihrer Heimat, vermutete er. Kleine Spiegel hingen beidseitig von Tycho an den Wänden.
»Sieh in die Spiegel.«
Tycho gehorchte und erblickte sein Spiegelbild, unendlich vervielfacht. Wolfsgraues Haar, ein Gesicht mit hohen Wangenknochen. Bernsteinfarben gefleckte Augenpaare erwiderten seinen Blick so durchdringend, dass ihn ein Schauer überlief.
»Was siehst du in diesem Spiegel?«
»Mich selbst.«
»Und in diesem her?«
»Dasselbe.«
Alexa lächelte säuerlich. »Typisch. Ich habe Dr. Crow diese Spiegel anfertigen lassen. In einem zeigt sich deine größte Schwäche, im anderen deine Stärke. Nur mithilfe dieser Spiegel konnte ich Marco dazu bewegen, Dr. Crow anzustellen. Hast du ihn umgebracht?«
»Ja«, sagte Tycho.
»Verrätst du mir den Grund dafür?«
»Da fragt Ihr am besten Eure Nichte, Dogaressa.«
»Glaub mir, das tue ich ganz bestimmt«, erwiderte Alexa. Tycho bezweifelte es nicht.
»Deine Bitte um eine Audienz hat mir jedenfalls die Peinlichkeit erspart, Wachen in Giuliettas Schlafzimmer zu schicken, wenn ich dich zu sprechen wünsche.«
»Sie ist bei Rosalie.«
»Du weißt, was ich meine. Hast du die Gerüchte über die byzantinische Geheimwaffe gehört?« Alexa entrollte eine Zeichnung. »Es handelt sich um eine Geschützplattform im chinesischen Stil.«
»Welche Reichweite haben die Geschütze?«
»Bestimmt von der Lagunenmündung bis zum Arsenal, möglicherweise sogar noch weiter. Vielleicht sind wir nicht einmal im Palast in Sicherheit. Wir werden es bald wissen.« Dafür, dass Venedig auf dem Spiel stand, klang sie erstaunlich gelassen.
Als sie fortfuhr, begriff Tycho, warum.
»Wir werden zuerst angreifen.«
»Unter der Führung des Regenten?«
»Ich habe mit dem Gedanken gespielt. Für einen Sieg würde ich es sogar in Kauf nehmen, dass er danach völlig unerträglich wäre. Aber wir sind unseren Feinden haushoch unterlegen. Deshalb sollen Roderigo und mein Schwager ruhig einen Plan aushecken, solange sie mich nicht bei meinem eigenen stören.«
»Und dann entscheidet Ihr Euch für einen davon?«
»Nein. Mein Plan wird längst in die Tat umgesetzt sein, bevor Alonzo mit seinem auftaucht.« Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß ohnehin, was er vorhat. Er will beiden Seiten sagen, sie seien unsere Wahl, und derweil
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