Nachtkrieger: Ewige Begierde
das Interesse an diesem Thema zu verlieren. Nachdem sie eine Weile weiter Beeren gepflückt hatten, fragte sie: »Was glaubst du, warum verschwinden sie? Nachts, meine ich.«
»Sir Steinarr hat Alpträume. Gewalttätige Träume. Er will vermeiden, dass er jemandem Schaden zufügt, deshalb schläft er so weit wie möglich entfernt von Menschen.«
»So etwas habe ich ja noch nie gehört.«
»Ich auch nicht. Aber ich habe einiges erlebt, seit Robin und ich von zu Hause fort sind, wovon ich vorher noch nichts gehört hatte.«
»Aber trotzdem … bist du sicher, dass er die Wahrheit gesagt hat?«
»Er hat keinen Grund zu lügen.«
»Ich an deiner Stelle würde es wissen wollen«, sagte Ivetta nachdenklich. »Er könnte doch nachts alles Mögliche machen. Er könnte herumhuren, so wie Sir Ari in Retford. Du würdest doch wissen wollen, wenn er herumhuren würde, oder etwa nicht?«
»Ich … Das geht mich nichts an.«
»Aber natürlich tut es das. Er bedeutet dir etwas. Vielleicht hast du dich sogar schon mit ihm eingelassen … Ah. Ach! Nun sieh sich einer diese glühenden Wangen an. Das hast du, oder?« Ivetta lachte, und es klang erfreut. »Nun bist du keine Jungfrau mehr. Keine Jungfrau mehr.«
Matilda senkte den Kopf, denn sie wollte ihre errötenden Wangen verbergen.
»Dafür brauchst du dich doch nicht zu schämen. Viele von uns sind als Braut keine Jungfrauen mehr, wobei es in den meisten Fällen allerdings der Bräutigam war, der das erledigt hat.« Ivettas herzliches Lachen milderte die peinliche Situation ein wenig. »Hoffst du darauf, dass Sir Steinarr dich heiratet?«
Diese Frage, so offen und unerwartet gestellt, ließ Matilda nach Luft schnappen. Sie schüttelte den Kopf. »Das ist nicht möglich.«
»Alles ist möglich. Die Frage ist nur, ob du es
möchtest.
Ist er der Mann deiner Wahl? Liebst du ihn?«
Bei allem, was sie Will erzählt hatte, wenn es um Liebe ging, hatten nur einfache Leute eine Wahl. Ihr Schicksal, ihre Pflicht bestand darin zu heiraten, wen man ihr zugedacht hatte, um Bündnisse zu besiegeln und Vermögen verschmelzen zu lassen, und um Erben hervorzubringen. Ins Kloster zu gehen, Osbert zu heiraten, das waren zwar Möglichkeiten zu handeln, aber nicht aus Liebe, sondern um etwas zu vermeiden. Die Liebe zu wählen? Darüber hatte sie noch nie nachgedacht. Sie hatte den Gedanken nicht zugelassen, sich Steinarr länger als für eine bestimmte Zeit zuzuwenden. Nun aber, als Ivetta sie so eindringlich danach fragte, gab es keinen Zweifel mehr. »Ja, mittlerweile liebe ich ihn.«
»Und er liebt dich auch?«
Matilda ließ in Gedanken Revue passieren, was sie gestern bei ihrem Zusammensein gefühlt hatte. Sie nickte. »Ich glaube schon. Ja.«
»Dann muss etwas unternommen werden.« Ivettas Gesichtsausdruck spiegelte ihre Entschlossenheit, und in ihren Augen lag ein sonderbar dunkles Funkeln, das Matilda zuvor nie aufgefallen war. »Als Erstes müssen wir herausfinden, warum er jede Nacht verschwindet. Um festzustellen, ob wirklich Alpträume der Grund sind, aus dem er sich von dir fernhält, oder etwas anderes.«
»Und wenn es Alpträume sind?«
»Davor kann er sich nicht verstecken – die
mæres
finden einen, ganz gleich, worauf man seinen Kopf bettet. Aber du kannst sie von ihm fernhalten. Sie wagen nämlich nicht, sich über einen Mann zu senken, wenn eine geliebte Frau ihn in den Armen hält.«
Möglicherweise besonders dann, wenn die Geliebte – war sie überhaupt seine Geliebte? – die Fähigkeit besaß, Verbindung zu ihm aufzunehmen und ihn zu beruhigen.
»Aber wie soll das gehen, wenn er nicht bleiben will?«
»Du musst ihm folgen. Folge ihm in den Wald hinein und beobachte, was er dort macht. Wenn es tatsächlich an den
mæres
liegt, kannst du ihm beiwohnen und ihm zeigen, dass deine Liebe stark genug ist, um das Böse, das sie bringen, fernzuhalten. Aye, du musst ihm hinterherreiten und die Nacht an seiner Seite verbringen.«
»Aber alle werden … Robin wird … Sie werden es erfahren.«
»Aye, das werden sie. Das musst du in Kauf nehmen. Du musst dir überlegen, ob es die Scham, die du empfinden wirst, wert ist. Ob
er
diese Scham wert ist.« Ivetta warf einen prüfenden Blick auf ihren Korb und sortierte ein paar Blätter und Halme aus, die dort hineingeraten waren. Anschließend sah sie sich Matildas Korb an. »Ich glaube, wir haben genug gesammelt. Es wird Zeit zurückzugehen.«
Abermals machten sie sich auf den Weg zurück und gingen den Geräuschen
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