Nachtkrieger: Ewige Begierde
Boden. Sein Schrei veränderte sich, klang animalisch.
Entsetzen warf sie zu Boden, als sein Körper sich vor ihren Augen wand und umformte. Sein Gesicht wurde zu einem Maul voller Zähne. Sein Haar wurde zu einer dichten Mähne, spross um Hals und Schultern herum, dunkel und struppig. Ein Schwanz entsprang seinen Hüften. Seine Füße und Hände krümmten sich zu Tatzen, aus denen lange, scharfe Krallen wuchsen. Fell bedeckte seinen Körper. Und während alledem brüllte das Tier vor Qual, und sie fühlte jeden einzelnen Schmerz, stand erstarrt da, begann mitzuschreien, während über ihr die Elster krakeelte.
Auf einmal war der Schmerz vorbei. Matilda und das wilde Tier verstummten. Der Löwe erhob sich, streckte sich und gähnte, als sei er aus dem Schlaf erwacht. Dann warf er den Kopf nach hinten und nahm Witterung auf. Sein riesiges Haupt wandte sich ihr zu, und seine gelben Augen verengten sich zu Schlitzen.
Erst als er sich duckte, kam ihrem schreckensstarren Körper in den Sinn, sich in Bewegung zu setzen. Doch da war es bereits zu spät.
Sie wurde gejagt.
Kapitel 18
L aufen oder sterben.
Dieser Gedanke traf sie wie ein Faustschlag, schiere Panik packte sie im letzten Moment, bevor sie sich umdrehte, um loszulaufen. Abermals erstarrte sie, zitterte, zwang ihren Körper zur Ruhe in der Gewissheit, dass es so war.
Er wollte, dass sie rannte. Wollte sie jagen, bevor er sie tötete.
»Nein«, flüsterte sie sich zu. Flüsterte sie ihm zu. Der Löwe duckte sich, tief, lauerte, und sein mächtiger Körper zitterte vor Erregung, als er zum tödlichen Sprung ansetzte. Alles in ihr schrie: flieh. »Nein! Ich werde nicht weglaufen.«
Sie blieb, und das Blut hämmerte in ihren Schläfen, so laut, dass sie sicher war, dass das Raubtier es hören konnte.
Nein, kein Raubtier.
Steinarr.
An diese Gewissheit klammerte sie sich. Es war Steinarr. Deshalb war sie noch am Leben. Er existierte in diesem wilden Tier, so wie die Wildheit dieses Tiers – denn das wusste sie nun – auch in ihm existierte. Wenn sie ihn finden konnte …
Sie öffnete ihren Geist.
Der Löwe knurrte, als sie ihn erreichte, seine Wildheit zwang sie beinahe zu Boden. Reine Willenskraft hielt sie auf den Beinen, befähigte sie, ihm die Stirn zu bieten, zu atmen. Ihre Muskeln verkrampften sich bei dem Drang zu fliehen, und sie wollte nichts lieber als fortlaufen, doch sie zwang sich zu bleiben.
Für ihn. Für Steinarr. Denn er war hier, irgendwo.
Abermals öffnete sie ihre Sinne für ihn, behutsamer dieses Mal. Rohe Wildheit überschwemmte sie.
Jagen. Töten. Paaren. Hunger. Meins. Schmerz.
All das vermischte sich miteinander, beängstigend, grausam, qualvoll. Sie wimmerte angesichts der Last all dessen, und wieder zitterte der Löwe, bereit zum Sprung, bereit, sich auf seine Beute zu stürzen.
Wo bist du?
Sie suchte tiefer, suchte nach etwas Vertrautem, hoffte auf wenigstens eine flüchtige Berührung.
Töten. Meins.
Und dann ganz schwach:
allein.
Ja. Das war er, seine Einsamkeit. Das Gefühl entsprach dem Stein in ihrer Brust, und sie umarmte ihn.
»Ist schon gut«, flüsterte sie. »Ich bin hier.«
Die riesige Raubkatze wich unbehaglich zurück und setzte sich auf die Hinterbeine, den Kopf zurückgeworfen, mit offenem Maul, die Zunge herausgestreckt, witterte. Sie hatte das bereits bei Katzen gesehen, hatte sich aber nie bewusst gemacht, dass sie Gerüche tatsächlich schmecken konnten. Der Löwe nahm ihren Geschmack auf. Sie stieß den Atem aus, reicherte die Luft mit ihrem Duft an – und wartete.
Nahrung. Meins. Paaren.
Ja, deins. Deins. Paaren.
Sie konzentrierte sich voll und ganz darauf.
Hier. Ich bin hier. Deins. Deine Gefährtin.
Sie hob den Kopf und sah dem Löwen in seine golden schimmernden Augen.
Du.
Erkennen durchzuckte sie, durchflutete sie, als ihre Seelen miteinander verschmolzen, wie flüssiges Gold und flüssiges Silber zusammenschmolzen. Empfindungen kehrten zurück, schemenhaft und verschwommen, wirbelten in ihrem Inneren herum: seine, ihre, die des Löwen. Die gemeinsame Erlösung bei ihrer ersten hemmungslosen Vereinigung. Bilder von ihr im Schlaf. Das Kribbeln von Bartstoppeln auf ihrer Wange, als er sie geküsst hatte. Die Aufforderung ihres Körpers, als sie bereit war, ihn in sich aufzunehmen. Zorn auf den Mann, der nachts über sie wachte, vermischt mit der beschämenden Angst, ihm etwas angetan zu haben. Ihr Geschmack, der seinen Mund durchströmte. Seine Härte, als er in sie eindrang. Geflüsterte
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