Nachtkrieger: Ewige Begierde
wartete. Nicht weil ihr der Kopf schmerzte, hatte sie sich zurückgezogen, sondern weil sie Zeit brauchte, um sich vorzubereiten, sich innerlich zu wappnen gegen das, was kommen würde. Gegen
ihn.
Sie wollte nicht, dass sich eine Situation wie am gestrigen Nachmittag wiederholte. Sie hatte gedacht, sie könne sich in Sicherheit wiegen, aber als sie arglos von seinem Ale getrunken hatte, war sie offenbar ein wenig zwanglos geworden. Nein, sogar sehr. Viel zu sehr. Der Moment, als er ihre Hand berührt hatte und sie sich augenblicklich mitten in all dieser Lust wiederfand … dieser Moment hatte ihr Angst gemacht. Was ihr jedoch viel mehr Angst bereitete, war die Tatsache, dass sie unfähig gewesen war, sich dem zu entziehen – jedenfalls nicht, bevor er fortgeritten war. Den nächsten Monat würde er nicht fortreiten, und so war sie hierhergekommen, um sich zu vergewissern, dass sie bereit war. Sie konnte sich nicht noch einmal derart gehenlassen, sonst wäre sie verloren.
Dabei würde es schon helfen, wenn sie wenigstens herausfände, warum sie die Gefühle dieses Mannes spüren konnte, ausgerechnet ihn fühlen, und so deutlich. Sie hatte sich immer anstrengen müssen, um die Seele eines Menschen zu lesen, hatte sie bewusst erreichen müssen, und selbst dann, die wenigen Male, wo sie das Innerste eines Menschen berührt hatte, hatten sich nur verschwommene Flecke gezeigt, waren die – menschlichen – Gefühle nur ein Schatten der kristallenen Klarheit der animalischen Triebe gewesen. Aber dieser hier … Dieser hier war stark, barbarisch, sein Innerstes randvoll mit Wut, Gelüsten und Trieben, stark wie die eines Tiers. Und diese Wildheit …
Nun gut, sie konnte kontrollieren, wann und wie sie ein Tier berührte, also konnte sie auch kontrollieren, wann und wie sie Sir Steinarr berührte – am besten überhaupt nicht. Sie würde ihre Gedanken zusammenhalten und sich hinter ihrer inneren Mauer verschanzen. Sie würde sich gegen jedes Lebewesen abschirmen, auch gegen ihn. Einen Monat lang. Schon der Gedanke daran erschöpfte sie.
Sie hörte, dass sich Pferde näherten, und probierte es aus. Nein, sie spürte nichts von ihm. Selbst als Sir Steinarrs Stimme durch das Unterholz wehte, fühlte sie nichts: keinen Menschen, kein Pferd, keinen Ochsen, nicht einmal die Fuchswelpen, die ganz in der Nähe im Gras herumtollten. Mit ihren unverfälschten Bedürfnissen – essen, schlafen, spielen – waren Jungtiere immer besonders leicht zu erspüren. Sie sah, wie einer der jungen Füchse den anderen ins Ohr biss, und obwohl der Welpe aufjaulte, fühlte sie nicht die leiseste Spur seines Schmerzes oder Zorns. Beruhigt, dass ihr Geist und ihre Seele unbeeinflusst und umgeben von den stärksten Mauern waren, die sie in ihrem Inneren errichten konnte, stand sie auf.
Als sie aus dem Schutz des Baums heraustrat und auf die Wiese ging, drehte sich Sir Steinarr um. Ihre Blicke trafen sich, und sie vergewisserte sich erneut. Nichts. Sie begrüßte ihn mit einem Lächeln – er brauchte ja nicht zu wissen, dass es mehr auf Erleichterung und weniger auf der Freude, ihn zu sehen, beruhte. »Guten Morgen, Mylord.«
»Ebenfalls, Marian.« Seine Augen verengten sich voller Argwohn. »Bist du so weit?«
Zum Teufel.
Er versuchte schon wieder, sie in Verlegenheit zu bringen, genau wie am gestrigen Nachmittag, aber dieses Mal war sie darauf vorbereitet. Sie lächelte weiter. »Gleich, Mylord. Ich brauche nur noch einen Moment, um mich von meinem Cousin zu verabschieden.«
Matilda ging hinüber zu dem Unterstand und hockte sich auf die Kante von Robins Bett. »Jetzt, wo es richtig hell ist, siehst du schon viel besser aus. Du hast wieder Farbe bekommen.«
»Ediths Weidenrinde hat den Schmerz ein wenig gelindert, und ich könnte schwören, dass ich spüre, wie die Beinwellwurzeln wirken, während ich einfach nur hier liege. Ich habe dir ja gesagt, hier bin ich besser aufgehoben.« Das Lächeln schwand aus seinem Gesicht. »Auch du wärst hier besser aufgehoben.«
»Robin …«
»Ich weiß, ich weiß. Du wirst nicht auf mich hören.«
»Um deiner
Schwester
willen.« Sie setzte ein verschwörerisches Lächeln auf und zwinkerte ihm zu, dann beugte sie sich über ihn und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Werd schnell gesund, Rob. Du musst wieder reiten können, wenn wir zurückkommen.«
»Das werde ich.« Mit einer Hand umfasste er ihren Nacken und zog sie zu sich hinunter, um ihr ins Ohr zu flüstern: »Sag ihm das. Und
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