Nachtkrieger
Wiege, um sich zu vergewissern, dass seine Tochter nicht aufgewacht war. Sie schlief tief und fest. Doch Ivo setzte sich nicht wieder auf seinen Hocker, sondern blieb vor der Wiege hocken, das Kinn auf den verschränkten Armen.
Das Nächste, was er mitbekam, war das Krähen der Hähne. Sein Kopf fühlte sich an wie Erbseneintopf. Er versuchte, seine Benommenheit abzuschütteln, rappelte sich mühsam auf und öffnete den Fensterladen einen Spaltbreit. Der Nebel war rosafarben.
War der Tag bereits so nah?
Panik erfasste ihn genau in dem Augenblick, als der erste Schmerz der Verwandlung ihn überfiel.
Odin, bitte nicht!
Ivo lief zur Tür, doch er sah ein, dass ihm keine Zeit mehr blieb. So konnte er nichts weiter tun, als den Laden vollständig zu öffnen, sich die Kleidung vom Leib zu reißen und sie samt Schwert unter das Bett zu schleudern in der Hoffnung, dass die Sachen dort nicht entdeckt wurden. Schon erfasste ihn die nächste Welle, und ein Stöhnen entfuhr seiner Kehle.
»Ivo?«
Ivo fuhr vor Schreck herum und sah, dass Alaida aufrecht im Bett saß.
»Nein«, flehte er laut die Götter an. Doch schon schoss ihm der Schmerz in die Arme, aus denen Federn zu sprießen begannen. Fassungslos starrte Alaida ihn an. Mit Entsetzen sah sie, wie die Füße ihres Mannes sich zu Klauen krümmten, während er selbst sich auf dem Boden wand und schrumpfte, bis er die Gestalt des Adlers angenommen hatte. Ivo öffnete den Mund zu einem Schmerzensschrei, doch sogleich formten sich seine Lippen zu einem Schnabel. Und nicht sein Schrei war es, der Alaida durch Mark und Bein ging, sondern der kreischende Ruf des Adlers.
Das hatte Ari gesehen,
war Ivos letzter Gedanke, bevor der nächste Streifen Morgenrot sich am Himmel zeigte. Das war es, was die Götter Ari hatten sehen lassen: Nicht Beatrice flog davon, sondern
er.
Voller Entsetzen schlug Alaida die Hände vors Gesicht. Sie wollte schreien, aber sie brachte keinen Laut heraus. Der Adler stieß erneut ein Kreischen aus. Er flog auf die Fensterbank und spreizte seine mächtigen Flügel über der Wiege des Kindes. Dann flog er hinaus in den aufsteigenden Nebel und ließ eine gespenstische Stille zurück.
Alaida schrie und schrie unaufhörlich. Doch ihre Schreie blieben lautlos. Sie war erstarrt und sah
ihn
noch immer vor sich.
Dann war Bôte bei ihr und nahm sie in ihre schützenden Arme, die ihr so vertraut waren und sich nun fest um sie schlossen. Und schließlich war Alaidas Schrei doch noch zu hören, gedämpft an der Brust ihrer alten Amme.
»Beruhigt Euch, My Lady. Lady Beatrice ist ja nichts passiert.«
»Aber es war
er
«, rief Alaida schluchzend und versuchte, sich ihrer Amme gegenüber verständlich zu machen. »Es war
er.
«
Bôte nahm sie fester in die Arme, so fest, dass Alaida kaum noch Luft bekam. »Aye. Ich weiß. Aber er ist davongeflogen. Er ist fort. Alles ist gut.«
Nein. Nichts war gut. Überhaupt nichts.
Alaida riss sich los und stolperte hinüber zur Wiege, wo ihre Tochter friedlich schlief, als sei nichts geschehen. Draußen hatte der Nebel jede Spur des Adlers verschluckt, und für einen kurzen Augenblick fragte Alaida sich, ob alles nur Einbildung gewesen war.
Ein Alptraum,
so hoffte sie.
Oder eine Sinnestäuschung.
Sie schlug den Fensterladen zu und verriegelte ihn. Dann stand sie einfach nur da, so schwer atmend, dass ihr die Lungen schmerzten.
O Gott. Er war es.
Er hatte sich in einen Vogel verwandelt. In einen
Adler.
Alaida stieß ein hilfloses Wimmern aus, das sich zu einem Schrei steigerte.
Bôte packte sie an den Schultern und schüttelte sie so fest, dass ihre Finger sich in ihr Fleisch gruben. »Schluss mit diesem wahnsinnigen Geschrei, bevor es jemand hört!«, zischte sie. »Was soll denn aus Euch werden, wenn alle erfahren, dass Euer Gemahl ein Dämon ist? Und was soll dann aus Lady Beatrice werden? Man würde Euch beide auf dem Scheiterhaufen verbrennen.«
Alaidas Schrei erstarb, und sie wurde gepackt von noch schlimmerem Entsetzen.
»Ein Mann, der sich in einen Vogel verwandelt«, fuhr Bôte mit unverhohlenem Abscheu fort. »Kein Wunder, dass er sich jeden Tag im Morgengrauen davonschleicht.«
»Dann hast du es also auch gesehen«, sagte Alaida und stieß einen Seufzer aus, der beinahe erleichtert klang, da sie immerhin nicht mehr fürchten musste, verrückt zu sein.
»Aye, ich habe es auch gesehen. Aber es ist ein Glück, dass niemand sonst es mitbekommen hat. Sonst hätte man uns alle drei aus diesem Zimmer gezerrt,
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