Nachtkrieger
Theobald gebeten, ihren Platz einzunehmen, damit sie sich neben Brand setzen und ihn bei jedem Zug strategisch beraten konnte. Anstatt sich auf den leeren Stuhl neben ihr zu setzen, blieb Ivo vor dem Tisch stehen. Er tat, als beobachte er interessiert die Partie Schach, und nahm einen Schluck aus dem Trinkhorn, das jemand ihm gereicht hatte. Doch in Wahrheit hatte er nur Augen für Alaida.
Je weiter die Partie voranschritt, desto mehr Männer drängten sich um den Tisch herum. Nach einer Weile unterdrückte Alaida hinter vorgehaltener Hand ein Gähnen. »Verzeihung.«
Sie fuhr fort, Brand das Spiel zu erklären, und zeigte dabei eine Engelsgeduld, die Ivo sich ebenfalls von ihr erhoffte. Wenig später gähnte sie erneut, ein wenig deutlicher dieses Mal. Sie bat abermals um Verzeihung und warf einen Seitenblick auf Ivo, um ihm zu signalisieren, dass sie gedachte, sich möglichst unauffällig zurückzuziehen. Ihre Bemühungen, den Anstand zu wahren, führten ihm vor Augen, auf welch schamlose Weise er sie in der vergangenen Nacht dazu gebracht hatte, sich über jeglichen Anstand hinwegzusetzen. Und sogleich begehrte er sie umso mehr. Jede ihrer Bewegungen schürte seine Lust – ihre wogenden Brüste, wenn sie sich vorbeugte, um einen Zug zu erklären, ihre Hände, wenn sie eine Spielfigur umfassten. Selbst ihre Art, einen Schluck Wein zu trinken, fachte ihn an – wenn ihre Hände sich um den Becher schlossen und sie mit der Zunge die Lippen benetzte, um ein verirrtes Tröpfchen aufzufangen.
Ich werde sie lehren, Hände und Mund zu benutzen.
Das hatte er zu Brand gesagt. Dieser Mund. Und diese flinke Zunge. Ivo umfasste das Trinkhorn so fest, dass er es knacken hörte. Hastig trank er es leer und verlangte ein neues.
Nach dem dritten Gähnen sagte Alaida: »Verzeiht mir, aber ich kann meine Augen kaum noch offen halten.« Sie erhob sich und sah sich in der Runde um, bis sie den Marschall entdeckte. »Oswald, Ihr spielt doch gut. Würdet Ihr Sir Brand an meiner Stelle alles Weitere erklären?«
»Mit Vergnügen, My Lady«, sagte Oswald und nahm Alaidas Platz ein.
»Achtet auf den Läufer«, warnte sie ihn auf dem Weg zur Treppe. »Auf ihn passt Vater Theobald besonders auf. Hadwisa, Bôte, folgt mir.«
Dies war auch für die anderen Frauen in der Halle das Signal zum Aufbruch. Wenig später waren die Männer unter sich, und sogleich ging es lauter und derber zu. In einem letzten Versuch, sich von Alaida fernzuhalten, versuchte Ivo, sich auf das Schachspiel zu konzentrieren.
Doch als Bôte und Hadwisa nach einer Weile die Treppe herunterkamen und sich zu den anderen Frauen gesellten, wusste er: Nun war Alaida allein und erwartete ihn. Sogleich schwand sein Interesse an der Schachpartie.
»Ich werde mich zurückziehen«, sagte er über Brands Kopf hinweg, um dessen warnendem Blick auszuweichen. »Und Ihr tut, was immer Euch beliebt.«
Vater Theobald erhob sich und fragte: »Werdet Ihr morgen früh die Messe besuchen, My Lord?«
»Aufgrund dringender Angelegenheiten werde ich in aller Frühe aufbrechen.«
»Aber Ihr habt schon die heutige Messe nicht besucht, My Lord, und …«
»Es lässt sich nicht ändern, Vater.« Ivo hatte erwartet, dass der Priester befremdet sein würde. Doch ihm stand nicht der Sinn danach, sich nun mit diesem Thema zu befassen. Er hatte längst die mächtige Rolle, die der Klerus bei den Normannen spielte, begriffen. Ivo hatte sich die Sprache und das Gebaren der Christen angeeignet, um unter ihnen nicht aufzufallen. Er hatte ihre Religion sogar zu schätzen gelernt und war zu der Ansicht gelangt, dass ihr Gott und sein gekreuzigter Sohn durchaus neben Odin und Baldur an der Tafel hätten Platz nehmen können. Mit den Priestern jedoch verhielt es sich vollkommen anders. Für Ivo waren sie weibisch und redeten zu viel, besonders dieser hier, und ganz besonders in diesem Moment. »Sir Brand und ich werden grundsätzlich vor Tagesanbruch ausreiten. Von daher wird es uns unmöglich sein, an der Messe teilzunehmen.«
»Aber Ihr müsst Euch der Bedeutung einer solchen Teilnahme bewusst sein, My Lord. Schließlich geht es um Euer Seelenheil.«
Welch ein Schwachkopf!
Dieser Priester wollte einfach keine Ruhe geben, und das, während Alaida oben auf ihn, Ivo, wartete. »Selbstverständlich sind wir uns dessen bewusst, Vater. Kommt Ihr nicht jeden Sonntag nach Alnwick, um die Messe zu lesen?«
»Jawohl, My Lord. Nachdem ich die Messe in Lesbury gelesen habe.«
»Dann werdet Ihr künftig
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