Nachtkrieger
Stimme.
»Bei den Gebeinen des Gekreuzigten, Frau, was ist los?«, schrie er verzweifelt. Sie wich zurück. Bemüht, seine Gefühle im Zaum zu halten, begann er ein wenig ruhiger. »Warum siehst du mich so unglücklich an?«
Mit zusammengekniffenen Augen sah sie ihn an. »Wisst Ihr das denn nicht? Bei allen Heiligen, Ihr seid … Wenn Ihr mich nun abermals allein lasst, wird meine Demütigung vollends sein.«
»Ich werde dich nicht allein lassen«, log er. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, nach unten zu gehen, um sich so weit wie möglich von ihr fernzuhalten. Aber sie hatte recht, es würde nur noch mehr Getuschel geben. Das war nun wirklich das Letzte, was sie beide gebrauchen konnten, insbesondere er. Wenn er Alnwick noch eine Zeitlang halten wollte, brauchte er das Wohlwollen und das Vertrauen seiner Leute mehr als das Alaidas. Er musste sich beherrschen. »Ich werde meine Bruche anlassen, um der Versuchung zu widerstehen. Hoffentlich erwache ich nicht, um festzustellen, dass mich die Lust im Schlaf übermannt hat und ich dich im Schlaf genommen habe. Rutsch rüber!«
Ivo löschte die Kerzen und ließ lediglich die Öllampe brennen. Er sandte ein Stoßgebet zu Freya, auf dass sie ihn in dieser Nacht von seiner Begierde erlösen mochte. Dann kroch er unter Felle und Laken und gab sich alle Mühe, Alaidas Wärme und Körperduft zu ignorieren. Er boxte sich das Kissen zurecht – eine willkommene Gelegenheit, ein wenig Wut abzulassen – und legte sich auf den Rücken. Nun konnte er nur noch hoffen, dass sie in ihrer Hälfte des Bettes liegen bleiben …
Schweigend rückte sie näher.
»Alaida.«
»Es ist kalt hier. Ich begann schon zu frieren, während ich auf Euch wartete.« Sie wollte ihren Kopf auf seine Schulter legen, doch das schien für beide recht unbequem. Seufzend legte er den Arm um sie und zog sie näher zu sich heran.
Sie schmiegte sich an ihn. »Habt Dank, My Lord.«
»Ivo«, sagte er, ohne darüber nachzudenken, und das Feuer knisterte zwischen ihnen. Er krallte die Finger seiner freien Hand in die Decke und starrte auf die Bespannung über ihm. »Schlaf jetzt, Alaida.«
»Ihr habt Euch verletzt«, sagte sie plötzlich und strich über seine Hand, die noch immer auf ihrer Schulter lag.
Ivo hob die Hand und betrachtete sie genauer. Sie war geschwollen, und an seinem Knöchel zeigte sich ein dünner Streifen Blut, dort, wo er mit ihm gegen die Wand geschlagen hatte. »Das ist nichts.«
»Offenbar doch«, sagte Alaida. Sie drehte sich halb um und presste ihre Lippen auf den verletzten Knöchel. Dabei gab sie den Blick auf ihre Brüste frei, und sogleich stieg in Ivo Lust auf wie die Flutwelle in einem nordischen Fjord, und schon lag er auf ihr und presste sie auf die Matratze. Er war bereit, und ein Blick in ihre Augen verriet ihm, dass auch sie sich nach ihm sehnte.
Nur noch einmal,
dachte er. Nur noch ein einziges Mal, ohne einen Gedanken an Ari – der sich ohnehin getäuscht hatte – und seine Visionen zu verschwenden. Er senkte den Kopf, um sie zu küssen. Sie öffnete den Mund, und in dem Moment verwandelte sich in seinem Kopf ihr Atem in einen Schrei, während sie ihr Kind als Adler davonfliegen sah. Fluchend rollte Ivo sich auf die Seite.
»My Lord?«, fragte Alaida zutiefst befremdet, den Tränen nahe.
»Ich sagte doch, wir können es heute Abend nicht tun«, brachte er mühsam hervor, ohne zornig zu klingen. Wie hatte er auch glauben können …? »Schlaf jetzt, mein Herzblatt.«
Sie schwieg, so lange, dass er bereits dachte, sie halte sich an seine Anweisung. Doch dann hörte er in der Dunkelheit ihre Stimme. »Morgen früh werdet Ihr wieder fort sein?«
»Vor dem Morgengrauen«, sagte er und hoffte inständig, dass sie sich nicht bewegte. Dann holte er tief Luft und wiederholte so sanft, wie es ihm eben möglich war: »Schlaf, Herzblatt.«
Erbarm dich, Freya, und lass sie endlich einschlafen!
Kapitel 9
L ange vor dem Morgengrauen verließ Ivo das herrschaftliche Gemach. Kleidung und Stiefel trug er unter dem Arm, um jeglicher Versuchung schnellstmöglich zu entkommen. In der Halle schliefen alle, bis auf Brand, der noch immer vor dem Schachbrett saß. Eingehend betrachtete er die Figuren, als würden sie ihm ein Geheimnis offenbaren, wenn er sie nur lange genug anstarrte.
Mit unverhohlenem Missfallen sah er Ivo an. Doch dieser ignorierte den Blick und warf seine Sachen auf einen Stuhl, und noch bevor er sein Hemd angezogen hatte, sprang Brand auf, nahm den
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