Nachtkrieger
als er seine Umformung beendete. Der böige Wind wehte den gedämpften Klang herbei, vermischt mit den Geräuschen des Waldes, und wurde von Ohren wahrgenommen, die nicht mehr ganz die eines Adlers waren, aber auch noch nicht vollkommen die eines Menschen. Die Schreie konnten von allen möglichen Tieren stammen – einem Wolf, einem Kaninchen, das zur Beute geworden war, oder von einem quiekenden Schwein auf einem entfernten Gehöft –, aber da er schon viel zu lange hier mit den Pferden wartete, sagte ihm seine innere Stimme, dass sie von einem Menschen stammten: von Brand.
Er stieg auf seinen Fax und führte Kraken an den Zügeln neben sich her, begleitet vom lauten Gekrächze des Raben. »Komm her«, rief Ivo und streckte einen Arm aus. »Ich brauche deine Hilfe, um Brand zu finden.«
Wie ein Falke setzte der Rabe sich auf Ivos Handgelenk. Er spreizte die Flügel und sah ihn mit seinen schwarzen Knopfaugen an. Dann legte er den Kopf schief, als wolle er um Verzeihung bitten.
»Ich weiß«, sagte Ivo. »Du kannst nichts dafür. Die Götter haben dir diese Visionen gesandt. Aber nun müssen wir Brand finden. Ich glaube, er ist verletzt.«
Der Rabe krächzte leise, machte ein paar seitliche Schritte und setzte sich auf Ivos Schulter. Dann ritt Ivo in die Richtung, aus der die Schreie gekommen waren.
Merewyn hatte den ganzen Tag auf ihn gewartet.
Seit der Wintersonnenwende, die nun vier Wochen her war, erschien ihr in ihren Träumen ein schwimmender Gänserich – das hieß ein männlicher Besucher. Erst an diesem Morgen hatte sie ihr Messer fallen lassen, und es war in den schmutzigen Dielen stecken geblieben – ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Mann noch am selben Tag erscheinen würde. Unglücklicherweise war wenig später ein Zaunkönig durch die geöffnete Tür hereingeflogen und hatte sich genau dorthin gesetzt, wo das Messer gesteckt hatte. So wusste sie, dass der Besucher mit dem Tod an seiner Seite kommen würde.
Dennoch erschrak sie, als die Tür aufflog und ein Hüne von Mann, nackt und blutüberströmt, hereinstürzte. Merewyn schrie auf und griff nach ihrem Messer, um sich zu verteidigen.
Doch seitens des Hünen drohte offenbar keine Gefahr. Denn nachdem sich ihr rasender Herzschlag beruhigt hatte, sah sie, dass eine derart geschundene Seele überhaupt nicht in der Lage war, jemandem etwas anzutun. Sogleich kam sie sich albern vor und legte das Messer weg. Sie ging um den Fremden herum, schloss die Tür gegen die Kälte, legte den eisernen Schürhaken vor, da der Balken zersplittert war, als der Hüne gegen die Tür geprallt war. Nun, da sie ihr Heim gesichert hatte, wandte sie sich dem sonderbaren Besucher zu, den der Nachtwind hereingeweht hatte. Sie kniete sich neben ihn und fühlte seinen Herzschlag – der überraschend gleichmäßig war.
»Heilige Mutter Gottes! Du lebst ja noch«, flüsterte sie. »Dann wollen wir einmal sehen, wie ich dir helfen kann, damit es auch so bleibt.«
Sogleich ging sie zu Werk.
Eine Hand. Kühl und ruhig. Sie griff nach ihm und führte ihn zurück in das Reich der Lebenden. Ungeachtet seiner Schmerzen gab sie ihm Halt, und allmählich konnte er die Dinge wieder benennen. Bett. Decke. Feuer. Eine Stimme, die munter plapperte. Hilfe. Er hatte Hilfe gefunden. Warum überhaupt hatte er sie noch gebraucht?
Die Hand wurde zurückgezogen, aber Brand wollte nicht, dass sie ihn losließ. Er versuchte, es ihr zu sagen, doch sein Hals schien voller Sand. »Ha …«
Ein Jaulen, wie von einem Hundebaby. Dann wieder die Stimme – eine sanfte weibliche Stimme. Aber er konnte nicht verstehen, was sie sagte.
»Endr«,
brachte er mühsam hervor.
Abermals sprach die weibliche Stimme zu ihm, aber nicht in nordischer, sondern in angelsächsischer Sprache. Doch seine Ohren stellten sich darauf ein, und so verstand er sie schließlich. »… ganz ruhig, My Lord.«
Jemand schien seine Augenlider mit Schiffsankern beschwert zu haben. Mühsam öffnete er sie einen Spaltbreit und erhaschte einen Blick auf einen blauen Ärmel, bevor ihm die Augen wieder zufielen.
Er wollte etwas und brauchte einen Moment lang, bis er das richtige Wort dafür gefunden hatte: »Trinken.«
»Aber natürlich.«
Er hörte eine Bewegung, dann näherte sich die Hand wieder und hob seinen Kopf an. Ein Becher berührte seine Lippen, und er ließ sich eine Flüssigkeit einflößen, die er kaum schmeckte. Er schluckte sie hinunter, und der Sand in seiner Kehle wurde fortgespült.
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