Nachtleben
Küchentisch hin- und herschob.
»Aha«, sagte er schließlich. Offenbar hatte er Grasbrösel entdeckt. »Habt ihr noch andere verbotene Sachen in der Wohnung?«
Gerade hatte ich mich beruhigt und atmete ein und aus, als Flavio sich nicht mehr halten konnte.
»Sicherlich noch Strychnin, du Wicht!«, platzte es aus ihm heraus, gefolgt von einem erstickten Quieken, und er krampfte lachend zusammen. Ich presste die Faust gegen meinen Mund und versuchte das Lachen zu unterdrücken, aber es blieb mir als Grunzen in der Nase stecken. Flavio drehte sich, in den höchsten Tonlagen wiehernd, um und rutschte an der Wand in die Hocke, wobei das Tablett über die Heizung zu Boden schepperte.
»Flavio! Richard!«, versuchte Herr Wedekind unsere Namen zu brüllen, mit dem Ergebnis, dass Flavio nur noch lauter gackerte und ich mich auch nicht mehr halten konnte.
»Iiiih – hihihihihi«, machte Flavio in länger werdenden Intervallen, rieb sich die Tränen aus den Augen und deutete dann mit dem Finger auf Herrn Wedekind. »Maulwurf«, brabbelte er kurzatmig, »Maulwurf.« Für einen Moment sah Herr Wedekind in seiner Latzhose tatsächlich aus wie ein behinderter Maulwurf, den man entweder betüddeln oder mit dem Spaten plattschlagen wollte. Atemlos kichernd, pochte Flavio mit der Faust auf den Boden und zog den Rotz in der Nase hoch.
»Das wird ein Nachspiel haben«, nuschelte Herr Wedekind. Flavio schnappte sich das Tablett und kloppte es sich, breit, wie er war, mehrfach vor die Stirn.
»Hundert Jahre Inzucht und kein Land in Sicht. Mann, Mann, Mann!«, hechelte er. Herr Wedekind trommelte mit dem Zeigefinger auf der Tischplatte herum, während seine Pupillen hin- und herzuckten wie Flipperkugeln. »Egal, was Ihre Mutter Ihnen über Ihr Gesicht gesagt hat«, sabbelte Flavio |77| weiter, »die Alte hat gelogen. Das könnense schriftlich von mir haben.«
Herr Wedekind wich unseren Blicken aus und schien von einer Sekunde auf die andere völlig wehrlos, als habe Flavio ihm die Klamotten vom Leib gerissen.
Etwas Seltsames geschah. Im ersten Moment glaubte ich, es läge nur am Gras, aber dann war es, als könne ich am Hausmeister in Herrn Wedekind vorbeilinsen und einen Blick auf etwas anderes, ganz Unerwartetes werfen. Je länger ich ihn anstarrte, desto mehr verschwand der bedrohliche Hausmeister, die Oberfläche wurde durchlässig, und zum Vorschein kam der eingeschüchterte, hässliche Junge in ihm. Mir dämmerte, dass all die Wut und all der schwelende Ärger, mit dem er uns Zivis kleinzuhalten versuchte, vielleicht nicht mehr waren als ein Kampf um eigene Größe. Ich stieß Flavio mit dem Fuß an.
»Hör mal auf«, flüsterte ich, und er versuchte zu antworten, aber mehr als ein Kieksen brachte er nicht heraus. »Hör auf«, wiederholte ich. Herr Wedekind stand wie angewurzelt da und fingerte an seinem riesigen Schlüsselbund herum. Bedeutete es ansonsten Macht und Kontrolle, wenn es wie eine dauernde Warnung an uns Zivis an seinem Gürtel baumelte, schien es auf einmal wie die Eisenkugel am Fuß eines Sträflings an ihm zu hängen. Gerade wollte ich ansetzen und etwas sagen, da drehte er sich um, watschelte davon und zog die Tür hinter sich zu.
Flavio winkte ihm mit beiden Händen hinterher und sah mit verquollenen Augen zu mir hoch. »Baust du noch einen?«, fragte er.
Am nächsten Tag wurden wir zur Verwaltung zitiert und kassierten, wohl weil wir noch neu waren, keine Abmahnung, sondern mussten lediglich eine lahmarschige Standpauke über uns ergehen lassen, wie ich sie seit der Schule nicht zu hören bekommen hatte. Wir mussten zusichern, in Zukunft |78| die Finger von Drogen zu lassen, und uns mit Handschlag bei Herrn Wedekind entschuldigen.
Während meiner Schulzeit hatte ich mich oft genug für vergessene Hausarbeiten oder geschwänzte Stunden entschuldigen müssen, und so wusste ich, welchen Ton ich anschlagen musste, um überzeugend zu sein.
Als wir in seiner Werkstatt auftauchten, warf Herr Wedekind uns einen misstrauischen Blick zu. Es roch nach Sägespänen und Lösungsmittel. Die Werkzeuge und Gerätschaften waren fein säuberlich sortiert und an den Wänden des Raumes aufgereiht wie in jahrelanger Suche gefundene Sammlerstücke. Ich sah Herrn Wedekind nur selten an, während ich mich entschuldigte, sprach bewusst leise und stotterte an den richtigen Stellen. Ich zeigte mich verständnislos wegen meines Verhaltens, behauptete, dass ich zwar gerne mal einen trinke, aber ansonsten keine Drogen
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