Nachtleben
sagen. Erst als er mich ein wenig fester griff, nickte ich.
»Dann geh mal zu dem Aufseher da drüben«, sagte er und deutete auf einen der Pfleger, »und sag, dass du gleich mit uns nachkommst. Luise und ich wollen noch in den Buchladen da hinten, zum Schmökern.« Damit zwinkerte er mir zu und ging zu Luise, die schelmisch grinsend an einem Postkartenständer auf ihn wartete.
|81| Andreas, der Pfleger, zu dem Fietje mich geschickt hatte, winkte schon nach den ersten Sätzen ab, als ich ihm Bescheid sagen wollte. »Sorg einfach dafür, dass Fietje nicht wieder lallt, ja?«, sagte er. Als ich mich mit den beiden entfernte, rief er mir noch hinterher: »Und lass dich nicht vollquatschen!«
Sie schleppten mich in eine Spelunke voller kitschiger Seefahrerdeko, Fischernetzen, Schiffen in Flaschen oder Plastikkrabben, in der Fietje sofort aufblühte.
»Wie immer?«, rief der Wirt herüber.
»Wie immer«, antwortete Fietje und deutete auf mich. »Und der Leichtmatrose bekommt das Gleiche wie ich.«
Wir zwängten uns auf eine Sitzbank, und Fietje steckte sich einen Zigarillo an, während Luise in ihrer Handtasche kramte.
»Karamellbonbon?«, fragte sie. Als ich ihn annehmen wollte, sagte Fietje: »Luise, bitte! Wir trinken Schnaps«, und sie steckte den Bonbon, schnippisch mit dem Kopf wackelnd, zurück in ihre Tasche.
»Kassensturz«, sagte Fietje dann an mich gerichtet. »Wie viel hast du dabei?«
»Einen Heiermann.«
»Damit kommste aber nicht weit.«
»Ach, wir laden ihn ein, Fietje«, sagte Luise. Aus der Nähe betrachtet, war ihr Gesicht ein einziges knittriges Stück Haut, aus dem der rot geschminkte Mund wie eine Boje herausragte.
»Da kommt wieder die Künstlernatur durch«, sagte Fietje, und beide lächelten sich an. »Das bisschen Geld, das man hat, gleich wieder zum Fenster rausschmeißen.«
Der Wirt brachte die Getränke. »Bier und Korn für die Herren und ein Likörchen für die Dame.«
Fietje boxte mir den Ellenbogen in die Rippen. »Das ist doch besser, als mit den ganzen Alten unterwegs zu sein, oder?«, fragte er und erhob sein Glas. »Auf ein langes Leben, die Kunst und die Seefahrt.« Dabei sah er Luise an, als wären sie bei einem Klassenausflug ihrem Lehrer entwischt. Wir tranken. »Weißt du überhaupt, mit wem du hier am Tisch |82| sitzt?«, wollte Fietje anschließend von mir wissen, aber ich schüttelte den Kopf. »Mit Luise Sundermann«, erklärte er, sah mich erwartungsvoll an, aber ich nahm nur einen Schluck Bier und nickte.
»Der ist doch viel zu jung, Fietje«, sagte Luise. »Wann sind Sie geboren?«
»Einundsiebzig«, antwortete ich, und Fietje prustete los. Als er sich wieder gefangen hatte, sagte er: »Tja, junger Mann, dann haben Sie eine der ganz großen Sängerinnen und Schauspielerinnen unseres Jahrhunderts verpasst.«
Luise starrte in ihren Likör und drehte einen Ring an ihrem Finger, als würde sie damit die Zeit zurückdrehen. »Die Sundermann kannte man sogar in Sumatra, als ich neunzehnhundertvierunddreißig mit der Handelsmarine unten war. Unser Smutje hatte zwar keine Zähne im Maul, aber eine Autogrammkarte von ihr im Spind.«
»Wirklich?«
»Na, hören Sie mal, junger Mann.« Fietje war sichtlich sauer, dass ich ihm nicht glaubte. »Dafür hätte ich Sie früher aber schön das Deck schrubben lassen.«
»Schon gut«, sagte Luise und fing an zu erzählen. Davon, wie sie sich jahrelang mit miesen Engagements zufriedengegeben hatte, um spielen zu können, wie sie schließlich entdeckt worden war und in Babelsberg Filme gedreht hatte, bevor sie auf die Bühne zurückgekehrt war, um in einigen Brecht-Stücken zu spielen, wie sie wegen eines Mannes Berlin wieder verlassen hatte und schlussendlich bei uns in der Stadt gelandet war. Dabei strahlten ihre Augen, als flackere hinter ihren Pupillen das Licht der Projektoren, die ihre Filme abspielten. Einige Biere und ein paar Gläser Korn und Likör später beendete sie ihre Geschichte mit dem Satz: »Na ja, und jetzt mal sehen, was die Zukunft bringt.«
»Noch mal dasselbe«, orderte Fietje, und der Einzige, der lallte, als wir zum Heim zurückkamen, war ich. Luise zeigte mir noch ihre vergilbte Autogrammkarte, die gerahmt in |83| ihrem Zimmer stand und auf der ihre Unterschrift in Sütterlin allmählich mit dem Foto verschwamm.
Von da an verbrachte ich meine Arbeitszeit nach Möglichkeit mit Fietje und Luise. Immer wenn sie jemand durch die Gegend kutschieren oder zum Arzt begleiten musste, übernahm ich den Job
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