Nachtleben
Seitenstechen auf keinen Fall stehen bleiben, sondern müsse, wenn es rechts sei, schneller laufen, wenn es links sei, langsamer.
»Stopp!«, rief er irgendwann. Ich zupfte mir das verschwitzte T-Shirt vom Körper und konnte die Erleichterung auch in den Augen meiner sportlichen Mitschüler sehen, aber Herr Rüdiger war noch nicht fertig mit uns.
»Die Mädchen räumen die Matten weg«, sagte er, »die Jungs bauen die Bänke parallel zueinander einmal durch die Halle auf. Zwei Schritte Platz dazwischen lassen.« Wir sahen uns erschöpft an und wuchteten die Bänke in die entsprechende Position. »Jetzt die Beine!«
Die folgende halbe Stunde verbrachten wir damit, über die Bänke zu springen. Erst mit beiden Beinen, dann auf einem Bein, schließlich in der Hocke. Einige meiner Mitschüler quälten sich in den letzten Minuten wie fette Kröten über die Bänke.
Schließlich rief Herr Rüdiger: »Abbauen!«
Als wir fertig waren und uns schon in die Umkleidekabinen retten wollten, hörten wir ihn ein letztes Mal: »Fünf Minuten Auslaufen. Du!«, er deutete auf mich und winkte mich zu sich heran. Ich befürchtete, weitere Strafrunden laufen oder Liegestütze machen zu müssen, aber er hielt mir ein Schlüsselbund hin. »Schließ schon mal den Ausgang bei euren Umkleiden ab und bring mir dann den Schlüssel zurück. Ihr geht hinten aus der Halle, wenn ihr fertig seid. Sag das den anderen, ja?«
|124| Als ich schließlich vor seinem Kabuff stand, hörte ich von drinnen Herrn Rüdiger und eine andere Lehrerin. Ich klopfte so zaghaft, als wollte ich nicht gehört werden, und wartete, bis er mich hereinrief, bevor ich die Tür öffnete. Die beiden saßen rauchend an einem Tischchen. Qualm stand in dichten Schwaden im fensterlosen Raum, und in der Ecke röchelte eine Kaffeemaschine. Herr Rüdiger streckte mir seine Hand entgegen. Ich machte nur einen kleinen Schritt in den Raum, hielt mich am Türrahmen fest und lehnte mich dann weit vor, um den Schlüssel in seiner Handfläche abzulegen.
»Wie heißt du?«, fragte er.
»Richard.«
»Richard«, wiederholte er. »Du musst mehr tun, Richard. Du kannst mehr.«
Ich nickte.
Am nächsten Morgen erwachte ich mit einem mörderischen Muskelkater und konnte jede Faser meines Körpers spüren, als ich in den Waschsaal humpelte. Es fühlte sich an, als sei mein Körper mit heißem Wachs ausgegossen worden, das im Laufe des Tages allmählich erhärtete. Gegen Abend waren die Schmerzen so stark und ich so unbeweglich, dass ich kaum in der Lage war, einen Löffel zum Mund zu führen oder mich runterzubeugen, um die Schnürsenkel zu öffnen. Es waren die ersten Schmerzen, die ich nicht wegen einer Krankheit spürte, eines Lochs im Zahn oder weil ich Dresche bekommen hatte.
Als ich mich wieder anständig bewegen konnte, zog ich mir an einem der folgenden Nachmittage meine Turnschuhe an und lief los. Am nächsten Tag gleich wieder. Weil ich sowieso nie etwas mit meiner Zeit anzufangen gewusst hatte, lief ich schließlich so gut wie täglich, vor allem, weil ich dabei aus dem Heim kam und meine Ruhe vor den anderen Kindern hatte. Als Werner Kurzhanteln anschleppte, die er irgendwo abgestaubt hatte, stemmte ich die auch noch.
|125| Einige Monate später stand ich beim Zähneputzen im Waschraum. Die Zahncreme siffte über meinen Handrücken und tropfte ins Waschbecken, als ich meinen Bizeps im Spiegel bemerkte. Ich trat einen Schritt zurück und betrachtete meinen Körper. Die Zahnbürste noch immer schräg im Mundwinkel, spannte ich meine Muskeln an, die sich an Brust und Armen deutlich abzeichneten. Auch Ansätze von Bauchmuskeln waren zu erkennen. Im nächsten Moment sah ich mir überrascht in die Augen und erschrak.
Ich wusste nicht, wann ich mir das letzte Mal in die Augen gesehen hatte. Zwar hatte ich vor dem Spiegel meine Haare durchgebürstet oder Pickel ausgedrückt, aber dem eigenen Blick war ich dabei ausgewichen, als hätte ich Angst, mich für irgendetwas rechtfertigen zu müssen. Jetzt konnte ich nicht anders, als mich anzustarren. Es dauerte einen Moment, bis ich begriffen hatte, dass ich es war, den ich im Spiegel ansah, und einen weiteren, bis ich das merkwürdige Flirren einordnen konnte, das ich in mir spürte. Aber schließlich verstand ich, dass ich offenbar stolz auf mich war. Ich nickte mir anerkennend zu und wischte mir Zahncreme-Schmadder vom Mund.
Herr Rüdiger erzählte im Sportunterricht immer wieder Geschichten aus seinem Leben.
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