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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Glaubte man ihm, hatte er schon einige haarsträubende Erlebnisse hinter sich. Angeblich hatte er an der Ralley Paris-Dakar teilgenommen, wobei ihm sein Auto verreckt war, sodass er sich anschließend mit Hilfe von Beduinenstämmen durch die Wüste hatte kämpfen müssen. Außerdem hätte er einige Zeit im australischen Outback zugebracht und anschließend ein paar Jahre lang mit Extremsportlern aus Burkina Faso trainiert. Bei einem Tourenwagenrennen auf dem Nürburgring, behauptete er, wäre er von einem Holländer abgedrängt worden, von der Fahrbahn abgekommen, und nachdem man ihn aus seinem brennenden Wagen gezogen hatte, wäre ihm eine Stahlplatte in den |126| Schädel geschraubt worden. Bei dem Wort Stahlplatte hatte er sich gegen den Kopf geklopft, und in dem Moment hatte ich tatsächlich geglaubt, ein metallisches Geräusch zu hören. Misstrauisch wurde ich erst, als er uns in der neunten Klasse erzählte, seine Frau hätte so ausgeprägte Bauchmuskeln, dass sie ihre Schwangerschaft erst im achten Monat bemerkte.
     
    An manchen Nachmittagen bot Herr Rüdiger eine Sport AG an. Ich wäre häufiger hingegangen, wären nicht sein übermotivierter Sohn Gabriel und dessen Freund Marcel in der AG gewesen. Während ich einfach nur laufen wollte, führten die beiden sich wie Hochleistungssportler auf, waren in Vereinen organisiert und hatten ständig Ziele, die sie erreichen wollten. Gabriel war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten und genauso durchtrainiert, hatte aber ein hohes, dünnes Stimmchen, für das er in der Schule nur deshalb nicht gehänselt wurde, weil alle wussten, was für ein Schleifer sein Vater war.
    Eines der wenigen Male, die ich bei der AG war, saß ich mit Gabriel in einer Pause vor der Sporthalle auf der Treppe.
    »Kennst du Ninjas?«, fragte er. »Richtige Ninjas?«
    »So Typen in Schwarz mit Schwertern und Masken?«, fragte ich zurück, und er nickte.
    »Mein Vater hat mir Wurfsterne besorgt«, flüsterte er, als ginge es um eine in den Knast geschmuggelte Feile. Ich nahm einen Schluck aus meiner Wasserflasche und sah ihn abwartend an.
    »In den Sommerferien habe ich mit dem letzten Ninjameister Europas trainiert«, wisperte er. »In Paderborn.«
    Obwohl ich weder Ahnung von Ninjas hatte noch wusste, wo Paderborn lag, war ich mir sicher, dass er Blödsinn erzählte.
    »Zeig mal was«, forderte ich ihn auf. Er sah sich um und zog einen schwarzen sechszackigen, flachen Stern aus Metall mit geschliffenen Kanten aus seiner Sporttasche.
    |127| »Pass auf«, sagte er, als er sicher war, dass uns niemand beobachtete. Dann erhob er sich und zielte auf einen etwa zwei Meter entfernten Baum neben einem der Lehrerparkplätze, streckte seine Zungenspitze heraus und warf. Der Stern trudelte am Baum vorbei, knallte stumpf gegen die Scheibe eines Autos und fiel zu Boden. Gabriel sah mich an.
    »Das war jetzt der Wind.« Es wehte kein Lüftchen. »Bäume sind auch schwierig«, erklärte er weiter und vollführte einige Karatetritte in die Luft, machte entsprechende Geräusche dazu und verharrte schließlich in einer ungelenken Position in der Hocke.
    »Das war der Angriff der Krabbe.«
    »Krabbe«, wiederholte ich, weil mir nichts Besseres einfiel, und nahm noch einen Schluck Wasser. In dem Moment kam Marcel aus der Halle. Er war wie üblich am Essen. Marcels Gesicht war überzogen mit übler Akne, und seine kurzen Haare standen in alle Richtungen. Als er Gabriel in seiner Pose bemerkte, sah er sich aufgeregt um, kaute einen Deut schneller, schluckte angestrengt und fragte: »Darf er das sehen?«
    Gabriel nickte großmütig, hob den Wurfstern auf und kam lässig zu uns zurück.
    »Machst du morgen auch mit?«, wollte Marcel von mir wissen.
    »Wobei denn?«
    »Tütenlauf.« Ich verstand nicht. »Tütenlauf«, wiederholte er, aber ich zuckte mit den Schultern.
    »Mal richtig schwitzen«, sagte Gabriel. »Man zieht sich einen blauen Müllsack über, klebt den ab und läuft. Schwitzen. Da verliert man richtig Wasser.«
    »Einen blauen Müllsack?«, fragte ich ungläubig.
    »Muss nicht blau sein«, antwortete Marcel und biss in sein Leberwurstbrot. Obwohl er ständig am Essen war, sah er dabei seltsam ungeschickt aus. Ganz egal, was er aß, er riss den Mund so weit wie möglich auf und kniff angestrengt die |128| Augen zusammen, bevor er sein Brot oder was auch immer reinschob. Dann biss er ruckartig ab und schien anschließend die Zeit des Kauens und Schluckens zu brauchen, um vom Abbeißen zu

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