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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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vor seinem Kabuff stand. Dann stolzierte er mit durchgedrücktem Rücken in die Hallenmitte und rief: »Sauhaufen! Kommt in Wallung!«
    Herr Rüdiger war Mitte vierzig, knapp zwei Meter groß und komplett durchtrainiert. Seine Haut war braungebrannt und die Unterarme mit dichten schwarzen Haaren überwuchert. Genauso dicht waren sein Walrossbärtchen und seine Koteletten, nur auf dem Kopf gingen ihm die Haare allmählich aus, was ihn aber nicht davon abhielt, den angegrauten |121| Rest in dünnen Strähnen bis auf Schulterlänge wachsen zu lassen. Mit seiner Hakennase, den buschigen Augenbrauen und den ruckartigen Bewegungen seines Kopfes hatte er etwas Raubvogelartiges an sich.
    »Weiter«, rief er, also rappelten wir uns auf und trotteten los. Nach wenigen Runden war ich wieder am Ende meiner Kräfte, blieb stehen und beugte mich, die Hände auf die Knie gestützt, weit nach vorne.
    »Laufen!«, hörte ich Herrn Rüdiger.
    »Ich kann nicht mehr«, antwortete ich. Mit großen Schritten kam er auf mich zu.
    »Laufen!«, wiederholte er. Weil ich glaubte, er hätte mich im Getrampel meiner Mitschüler nicht verstanden, wiederholte ich meinerseits: »Ich kann nicht mehr.«
    Daraufhin packte er mich am Arm und zog mich in die Hallenmitte, während die anderen uns umkreisten und gespannt zuguckten.
    »Wer nicht laufen kann, macht für jede nicht gelaufene Minute zwanzig Liegestütze«, sagte Herr Rüdiger, ließ mich los und deutete auf den Boden. Er sah auf seine Uhr.
    »Achtzig Liegestütze«, ordnete er in unveränderter Lautstärke an. Meine Lunge brannte. Mit hängenden Schultern stand ich neben ihm.
    »Pump!«, rief er.
    Meine sportlichen Mitschüler sahen sich feixend an und trabten ihre Runden, während diejenigen, die genauso untrainiert waren wie ich, wenigstens zügig gingen, anstatt stehen zu bleiben.
    »Pumpen!«, hörte ich Herrn Rüdiger wieder.
    Elf Liegestütze schaffte ich, von denen Herr Rüdiger jeden einzelnen lautstark mitzählte, bevor ich auf den Rücken rollte und Arme und Beine von mir streckte, als sollte ich gevierteilt werden. Gerade als ich dachte, damit hätte ich die Tortur hinter mir, fragte er: »Doch lieber laufen?« Ich blinzelte. »Zieh! An!« Also quälte ich mich hoch und stokelte los.
    |122| »Du noch zwei Minuten, die anderen kommen in den Kreis.«
    Während meine Mitschüler sich auf dem Hallenboden zusammensetzten, drehte ich alleine meine Runden.
     
    »Mein Name ist Rüdiger«, sagte er, nach wie vor mehr rufend als sprechend. Meine Klassenkameraden hockten im Kreis, er ging in ihrer Mitte auf und ab und blickte auf sie hinunter. »Alle eure Namen lerne ich wahrscheinlich nie, aber ich merke mir die Leistungen, die zu jedem Gesicht gehören. Ich mache Sportunterricht, keinen Spielunterricht. Fußball gehört auf den Bolzplatz und Völkerball in die Grundschule.«
    Meine Mitschüler sahen ihn mit ehrfürchtigen Augen an wie eine Kindergartengruppe den Weihnachtsmann.
    »Wir machen dieses Jahr Lauftraining und Krafttraining, und zum Halbjahr machen wir das Laufabzeichen.«
    Außer meinem Keuchen und den auf dem Boden quietschenden Turnschuhen herrschte Totenstille in der Halle. Laufabzeichen, ging es mir durch den Kopf. Ein Schwimmabzeichen hatte ich einige Wochen zuvor in den Sommerferien gemacht, damit ich auf die Sprungtürme durfte und der Bademeister mich nicht aus dem tiefen Becken schmeißen konnte. Wofür ein Laufabzeichen gut sein sollte, war mir ein Rätsel.
    »Eine Stunde laufen. Dafür braucht ihr Ausdauer und Kraft, und dafür trainieren wir«, fuhr er fort. »Und heute fangen wir an.« Er klatschte wieder. »Die Jungen holen die Turnbänke und bauen immer zwei von ihnen parallel zueinander auf, in etwa einem halben Meter Abstand, und die Mädchen holen den Wagen mit den Matten aus dem Geräteraum und verteilen sie in der Halle. Auf!«
    Die anderen erhoben sich und ich sah fragend zu Herrn Rüdiger, der mir zunickte und auf die Bänke deutete.
    Der Rest der Doppelstunde war eine einzige Quälerei. Wir machten Liegestütze. Erst auf dem Boden, dann auf die Bänke |123| gestützt und schließlich mit dem Oberkörper zwischen zwei Bänken hängend. Die Jungen und die Mädchen. Um die Muskeln zu entspannen, wie Herr Rüdiger sagte, liefen wir zwischendurch immer wieder. In unregelmäßigen Abständen gab er uns Verschnaufpausen auf den Matten. Als jemand über Seitenstechen klagte, fragte Herr Rüdiger, ob es rechts oder links wäre, und erklärte, man dürfe bei

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