Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
Vom Netzwerk:
Namensgleichheit sein konnte. Ihn an anderer Stelle als an meiner Klingel oder in meinem Ausweis zu lesen, fühlte sich merkwürdig an. Als wenn man beim Durchstöbern von alten Kartons etwas wiederfindet, von dem man glaubte, es schon vor Jahren weggeschmissen zu haben, ein Kästchen voller Plastikspielzeug oder eine Musik-Kassette.
    Anschließend quälte ich mich zwei Wochen lang mit der Entscheidung herum, ob ich fahren sollte oder nicht, auch weil ich nicht wusste, wie ich hinkommen sollte. Mit der |131| Bahn wollte ich nicht fahren, weil ich beweglich sein wollte, aber ein eigenes Auto besaß ich nicht. Flavios Wagen hätte ich mir leihen können, allerdings nicht, ohne ihm eine krude Geschichte aufzutischen, wofür ich ihn bräuchte. Bald ging es bei meinen Überlegungen nicht mehr darum, ob und weshalb ich fahren sollte, sondern nur noch darum, wie ich am besten hinkam. Als ich beschlossen hatte, mit der Bahn zu fahren, hatte ich gleichzeitig entschieden,
dass
ich fahren würde, ohne die Frage nach dem Grund beantwortet zu haben.
     
    Es war einer der ersten warmen Tage des Jahres, so überraschend heiß, dass ich beim Verlassen des Hauses gleich ein zweites Mal nach Luft schnappen musste, weil ein normaler Atemzug nicht ausreichte. Als ich schließlich im Zug saß, wurde es nicht besser. Die gesamte Fahrt hindurch hockte ich schwer atmend auf meinem Platz, knüllte die Fahrkarte und starrte abwesend aus dem Fenster oder gaffte in die Spiegelungen auf der Scheibe. Mehr als mich selbst, meinen suchenden Blick oder wechselnde Fahrgäste neben mir entdeckte ich allerdings nicht.
    Nach knapp vier Stunden Fahrt war ich angekommen. Als ich vor den wie ausgebrannt wirkenden Bahnhof trat, auf dessen Vorplatz ein Markt stattfand, war es wie in einem Western, wenn ein Fremder in der Stadt auftaucht und das geschäftige Treiben schlagartig zum Erliegen kommt.
    Der Friseur hört auf, vor seinem Geschäft zu fegen, und stützt sich auf den Besen. Jemand lehnt sich von innen über die Saloontür und rotzt in einen Spucknapf. Der Sheriff, der gerade noch entspannt auf seiner Veranda gesessen hat, erhebt sich, um den Ankömmling kritisch zu beäugen, während hinter ihm sein Schaukelstuhl vor- und zurückwippt. Zwei verwegen aussehende Kerle auf ihren Pferden sehen sich erst vielsagend an, nicken dann dem Fremden zu und tippen sich an den Hut.
    Niemand nickte mir zu, und so zog ich mein T-Shirt zurecht |132| und fragte mich nach der Straße durch, in der meine Großeltern lebten.
    Auf dem Weg sah ich mich in der Ortschaft um. Die Straßen waren voller Schlaglöcher, die Fenster des Postamtes mit Brettern vernagelt und die ursprünglich bunten Schilder der Geschäfte ausgeblichen. Hier und da waren in alte Läden neue Fensterfassaden eingesetzt worden, strahlend helle Rahmen in verwitterten Häuserfronten. Stahlrohre, mit rotbraunem Rost überzogen, schlängelten sich an den Straßen entlang, kreuzten sie über Traversen und verschwanden in Nebenstraßen oder baufälligen Fabrikgebäuden.
    Als ich schließlich vor dem Haus meiner Großeltern stand, konnte ich minutenlang nicht aufhören, es anzustarren. Ich brauchte einige Zeit, um die Erkenntnis in mich einsickern zu lassen, dass es ein stinknormales Haus war. Ein zweistöckiges, weiß verputztes Gebäude mit dunklen Dachziegeln, umzäunt von einem rot-weiß gestrichenen Gartenzaun aus Metall. Zwischen Zaun und Haus war ein Vorgarten mit einem lila blühenden Rhododendron, einer Tanne und einigen Sträuchern gelber Rosen. Seitlich am Haus führten fünf Waschbetonstufen zu einer Tür aus hellem Holz, an der ein Trockengesteck mit silberner Schleife hing. Die der Straße zugewandte Seite des Hauses hatte im Erdgeschoss zwei Fenster, hinter denen die Vorhänge zugezogen waren. Im ersten Stock befanden sich zwei kleinere Fenster ohne Gardinen, die wie hohle Augen in die Welt gafften. Neben dem Haus führte eine Einfahrt aus Steinplatten zu einer Garage.
    Ich stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Weil ich nicht zurückfahren wollte, ohne mir das Haus aus der Nähe angesehen zu haben, überquerte ich die Straße. Die Absätze meiner Stiefel klackerten auf dem Asphalt, und ich versuchte so uninteressiert wie möglich zu wirken. Auf den Steinplatten der Einfahrt räkelte sich eine getigerte Katze, blickte mir einen Moment lang in die Augen, legte dann schnurrend den Kopf in den Nacken und streckte sich. Im Vorbeigehen strich |133| ich mit den Fingerspitzen über die

Weitere Kostenlose Bücher