Nachtleben
verschnaufen, bevor er den nächsten Bissen nahm.
»Am Wochenende ist Wettkampf«, sagte Gabriel. »Tütenlauf macht Spaß.«
Zum einen war ich mir nicht sicher, ob es tatsächlich Spaß machte, sich einen Müllsack überzuziehen und ihn vollzuschwitzen, zum anderen interessierten mich Wettkämpfe nicht.
»Komm ruhig mal mit«, sagte Gabriel, aber ich schüttelte den Kopf. »Würde mein Vater sich auch freuen.«
»Nee«, antwortete ich, aber Marcel hakte nach: »Mach das doch mal, wenn Herr Rüdiger dich extra dabeihaben will.«
»Keine Zeit«, sagte ich. »Wir haben so ’ne Familienfeier.«
Anschließend versuchten sie noch einige Male, mich zum Mitmachen zu überreden, genau wie Herr Rüdiger selbst, aber ich blieb hartnäckig. Irgendwann gaben sie es auf.
Kurz vor Ende der zehnten Klasse schließlich rief mich Herr Rüdiger nach dem Unterricht zu sich ins Kabuff.
»Mach mal die Tür zu, Richard«, sagte er und deutete auf einen Hocker. Ich setzte mich, und er hielt mir seine Schachtel Zigaretten hin. Als ich zögerte, lächelte er; es war das erste Mal, dass ich ihn in all der Zeit lächeln sah. Für einen Sekundenbruchteil entdeckte ich eine völlig andere Person in seinem Gesicht. Herr Rüdiger steckte eine Zigarette an und gab sie mir.
»Weißt du schon, was du nach der Schule machst?«, wollte er wissen.
»Habe so ein paar Bewerbungen rausgeschickt«, sagte ich. »Bäcker, Tischler, KFZ-Mechaniker und so was.«
»Bäcker?« Er sah mich skeptisch an. »Wozu hast du denn wirklich Lust?«, wollte er wissen, aber ich zuckte mit den Schultern.
|129| »Willst du weiter zur Schule gehen? Abi machen? Ich glaube, das könntest du.«
»Ja?«
»Warum nicht? Ich kenne deine Geschichte, Richard, und ich mag dich, weil du dich durchbeißt, weil du kämpfst«, sagte er. »Aber ich verstehe nicht, wofür du kämpfst. Ich weiß, dass du viel läufst, aber du machst das alles für dich alleine. Du kommst nicht zur AG, willst nicht an Wettkämpfen teilnehmen.« Er sah mich ratlos an. »Das ist alles so sinnlos. Reicht dir das?«
Ich kratzte mich unter den Achseln. Nach dem Unterricht hatte ich nicht geduscht und roch meinen Schweiß.
»Das ist doch toll, auch mal bei Wettkämpfen mitzumachen und zu gewinnen«, sagte er, »und zu sehen, dass die ganze Arbeit auch was bringt.«
»Was denn?«
Herr Rüdiger wedelte mit den Händen herum und schien meine Frage nicht zu verstehen. »Platzierungen«, sagte er schließlich. »Sich mit anderen messen. Anerkennung von deinem Team.« Die Kaffeemaschine surrte. »Freundschaften.« Erst in dem Moment fiel mir auf, wie leise er sprach und wie sanft seine Stimme klang. »Hast du Freunde?«
»Ich weiß nicht.«
Er legte die Stirn in Falten und sagte: »Das ist keine gute Antwort, Richard.« Dabei tippte er auf seinem roten Notenbüchlein herum. »Du brauchst Freunde. Leute, denen du vertrauen kannst, die ehrlich zu dir sind«, sagte er. Ich beugte mich vor zum Aschenbecher und aschte ab.
Dann hörte ich mich fragen: »Sind Sie wirklich die Ralley Paris-Dakar gefahren?«
Herr Rüdiger schmunzelte. Nach einer kurzen Pause fragte er: »Was machst du, wenn du Seitenstechen hast?«
»Ich laufe schneller oder langsamer. Je nachdem.«
»Aber du bleibst nicht stehen, oder?«, wollte er wissen, und als ich den Kopf schüttelte, sagte er: »Das ist gut.«
|130| Juli 2000
Wenn Franz Geschichten von früher erzählte, waren es für gewöhnlich hohle Anekdoten und Saufgeschichten. Eines Abends rutschte ihm aber bei einer seiner besoffenen Grundsatzreden, in dem Fall über das Ende der Kohlesubventionen und den Niedergang des Ruhrpotts, der Name des Ortes heraus, aus dem Mutter stammte. Er zählte einige Städte auf, und nach der letzten lallte er: »… als deine Mutter abgehauen is’, war’n da noch rosige Zeiten, jetzt ist’s zappenduster.«
Damit stand er von der Theke auf, schlurfte zu einem Geldspielautomaten, um einen Heiermann nachzuwerfen, und hämmerte auf den Tasten herum.
Obwohl ich schon ein paar Biere und Whiskeys intus hatte, war ich mit einem Mal hellwach. Als Franz mich nicht beachtete, langte ich über die Theke, schnappte mir einen Stift und kritzelte den Ortsnamen auf einen Bierdeckel.
Um herauszufinden, ob meine Großeltern noch dort lebten, ging ich am nächsten Tag zur Hauptpost, suchte mir das entsprechende Telefonbuch heraus und fand darin tatsächlich meinen Nachnamen. Selten, wie er ist, war ich mir sicher, dass es keine zufällige
Weitere Kostenlose Bücher