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Nachtleben

Nachtleben

Titel: Nachtleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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ich meine«, brabbelte ich und schnappte nach Luft, »verglichen mit so richtig wissenschaftlichen Sachen.«
    Immer lauter gackernd, antwortete Ingrid: »Das ist richtig wissenschaftlich!«
    Unsere Blicke trafen sich, und es war, als würden wir uns in einem Stuhlkreis ein Wollknäuel zuwerfen.
    »Ich will zum einen die Umsetzung von der Roman- zur Filmversion analysieren«, erklärte Ingrid, »vergleichen, was von der Geschichte und den Charakteren verloren geht, was verändert wird oder inwieweit die Schauspieler den Charakter neu definieren und so was.«
    Einmal angestoßen, kam sie in Fahrt und erklärte mir in einfachen Worten, was sie vorhatte. In der Hoffnung, mit meinem Wissen über Literatur Eindruck schinden zu können, unterbrach ich sie nach einer Weile. »Und welche Bücher willst du nehmen?«
    |253| »Weiß ich noch nicht genau. Ganz unterschiedliche Sachen. Auf jeden Fall wohl die
Blechtrommel
«, sie sah mich abwartend an, und als ich nickte, ließ sie ihren Blick einen Moment zu lange prüfend auf meinem Gesicht, als wolle sie beim Pokern abchecken, ob ich bluffe. »
Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
,
Der Graf von Monte Christo
und
Moby Dick
wohl auch, aber ich habe mich noch nicht entschieden.«
    Obwohl sie inzwischen wieder übers Lenkrad auf die Autobahn sah, war ein Rest ihres kritischen Blickes auf meinem Gesicht kleben geblieben. Um ihn loszuwerden, sagte ich: »Dass
Moby Dick
keine Abenteuergeschichte für Kinder, sondern ein wirklich philosophisches Buch ist, habe ich auch erst beim Lesen begriffen«, und konnte mir dann nicht verkneifen, noch ein wenig dicker aufzutragen, indem ich einen Satz aus dem Klappentext zitierte, der hängengeblieben war. »Gilt ja nicht zu Unrecht als
das
Werk des amerikanischen Symbolismus.«
    Ingrid nickte langsam, als müsse sie mein Äußeres und das gerade Gesagte einmal im Kopf kreisen und sich vorsichtig vermengen lassen wie eine chemische Verbindung. Aber sie fragte nicht weiter nach, sondern kaute nur knatschend ihr Kaugummi. Ich strich mir zufrieden über den Backenbart und zog den Reißverschluss meiner Jacke auf.
    »
Casablanca
hat keine Buchvorlage, oder?«, fragte ich.
    »Keine Ahnung. Den finde ich aber auch nicht so gut.«
    »Na, ich meine nur. Wegen uns.«
    »Wegen uns?«
    »Bei uns in der Küche hing doch dieses
Casablanca -Film plakat
, und …«
    »So was weiß ich alles gar nicht mehr«, fiel Ingrid mir ins Wort.
    »Das war halt Mutters Lieblingsfilm und …«
    »Woher weißt du das?«
    Franz hatte es einmal erwähnt. Etwas in mir sträubte sich |254| noch immer dagegen, Ingrid zu erzählen, dass ich Franz wiederbegegnet war und wie viel Zeit wir miteinander verbracht hatten. Mit einem Mal fühlte es sich an, als hätte ich etwas Verbotenes getan.
    »Das hat Mutter damals doch immer erzählt«, behauptete ich. »Auf jeden Fall …«
    »Ich kann mich an kaum was von früher erinnern«, unterbrach mich Ingrid wieder. »Ich weiß noch so Kleinigkeiten«, sagte sie. Offenbar hielt sie es nicht mehr aus, Mutter und unsere Kindheit totzuschweigen. »An den schmutzigen Fußboden in der Küche erinnere ich mich. Oder dass es in Mamas Zimmer so komisch gerochen hat. Oder wie sie mir abends ganz oft heiße Milch mit Honig gemacht hat.«
    »Frau Marquard«, sagte ich, als würde ich Flavio korrigieren, wenn er mal wieder die Namen irgendwelcher One-Night-Stands durcheinandergebracht hatte.
    »Frau Marquard?«, wiederholte Ingrid dösig. Erst zögerte ich, sagte dann aber: »Frau Marquard hat dir immer heiße Milch mit Honig gemacht, wenn du nicht einschlafen konntest und Mutter abends unterwegs war oder gearbeitet hat. Die hat in der Wohnung unter uns gewohnt. Frau Marquard hatte einen Zweitschlüssel und hat ab und zu nach uns geguckt. Oder ich bin zu ihr runter und habe sie geholt, wenn du geheult hast.«
    Ingrid setzte sich aufrecht in den Sitz, löste die Daumen vom Lenkrad und schob ihre Hände mit festem Griff auf Fünf-vor-eins-Stellung.
    »Nee«, sagte sie, aber es war kein Widerspruch, sondern eine Weigerung.
    »Doch«, sagte ich. Ingrid zog die Schultern hoch und sog zischend Luft durch ihre Zähne. »Mutter hat dir keine heiße Milch gemacht. Frau Marquard muss so Ende fünfzig gewesen sein. So eine ganz Großmütterliche. Hat dir immer den Löffel in die Hand gedrückt, und du solltest den Honig selbst aus dem Glas holen, aber …«
    |255| »Der war immer so fest«, beendete Ingrid mit bröckelnder Stimme meinen Satz.
    »Ja«, sagte

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