Nachtmahl im Paradies
sich in ihrer Gesellschaft nicht unwohl gefühlt hatte. Er war so viele Jahre allein gewesen, und auf einmal registrierte er, dass die Stille und die Einsamkeit, die Leere, ihn bedrückten.
Jacques versuchte, den Vorfall von vergangener Nacht vor seinem geistigen Auge Revue passieren zu lassen. Hatte er das alles nur geträumt? Oder war es wirklich Elli gewesen, die er in die Arme geschlossen hatte? Jetzt, bei Tageslicht betrachtet, kam ihm das Ganze vor wie eine überbordende, wirre Phantasie. Was genau hatte sie zu ihm gesagt? Dass sie ein Weilchen bei ihm bleiben würde – keine Ewigkeit zwar, aber doch ein Weilchen. War dieses Weilchen mit ihrem gestrigen Erscheinen schon verstrichen? Oder war es denkbar, dass sie ihn ein zweites Mal besuchte?
Fragen über Fragen. Jacques beschloss, auch heute nach Feierabend die neu eingeführte Spätschicht in der Küche zu übernehmen – um das gestern angefangene Süppchen aus dem kleinen roten Buch zu vollenden. Irgendetwas hatte es damit auf sich. Vielleicht war das Büchlein verzaubert? Auf jeden Fall, so viel stand fest, hatte es ein Engel geschrieben. Vor langer, langer Zeit, als sie jung und glücklich gewesen waren, noch ganz am Anfang ihrer Liebe und ihres Lebens zu zweit, er und der Engel.
Unversehens beschlich ihn eine bleierne Müdigkeit. Das frühe Aufstehen bekam ihm einfach nicht. Heute Morgen war er versehentlich mehr als eine Stunde früher erwacht als gewöhnlich – die Aufregung in letzter Zeit brachte ihn um den Schlaf. Möglicherweise war es das Beste, sich für ein Viertelstündchen oben in der Wohnung aufs Ohr zu hauen, bevor der abendliche Restaurantbetrieb begann, entschied er. Während er ein Nickerchen machte, konnte er davon träumen, wie er sich bei Catherine am besten entschuldigte – oder vielmehr ob ein solch gewaltiger Schritt wegen einer von einer winzigen Maus zu einem Elefanten aufgebauschten Sache überhaupt nötig war.
Blubb. Blubb. Blubb.
Jacques hatte den Kopf gerade erst auf das weiche Kissen gebettet, als er merkte, dass sein Blick durch ein Aquarium schweifte. Was war das denn nun schon wieder? Ein Traum? Die Wirklichkeit sah jedenfalls anders aus, wenn er sich recht erinnerte. Er befand sich unter Wasser, so viel war klar, und betrachtete im dickwandigen Glas des Beckens mit merkwürdigem Gleichmut sein Spiegelbild. Er war wirklich ein Karpfen – und was für einer! Ein prächtiger Bursche mit einem Maul, das, nun … optisch betrachtet war es nicht gerade das, worauf Frauen so anspringen, und außer ein paar Luftblasen entwich ihm nichts. Seine Augen waren winzig, gemessen an seinem Leib, und es war keinerlei Wärme darin zu entdecken.
Sei’s drum!, dachte er sich und schwamm weiter. Bis schließlich ein kleiner Fisch direkt vor seinen Augen baumelte. Sofort verspürte Jacques einen ungezügelten Appetit. Er schnappte zu. Autsch! Hatte er sich etwa auf die Zunge gebissen? Da war etwas Hartes in seinem Mund – nein, in seinem Hals. Er hatte es bereits mit dem Fisch verschluckt. Nun erst sah er mit seinen winzigen, kalten Fischaugen, dass ein dünner Faden aus seinem Maul hing. Er blickte nach oben. Und musste erkennen, dass es gar kein Aquarium war, in dem er schwamm, sondern offenbar ein See oder ein ähnliches Gewässer. Am Ufer dieses Sees saß eine Person, die vor seinen Augen ihre Angel einholte – mit ihm am Haken! Mit dem dünnen Faden zerrte sie ihn näher und näher zur Wasseroberfläche, und als er diese schließlich durchbrach, erkannte er, wer ihn sich da mit brutaler Gewalt geangelt hatte: Catherine!
Jacques erwachte schweißgebadet. Wie lange hatte er geschlafen? Mit wirrem Blick starrte er auf den kleinen, runden Wecker neben seinem Bett. Es waren nur ein paar Minuten gewesen. Auf seiner Zunge schmeckte er Blut. Er sprang auf – gegen den ausdrücklichen Willen seines rebellierenden Kreislaufs – und schleppte sich schwerfällig ins Badezimmer.
»Ahhh!« Er öffnete den Mund und mimte den theatralischen Patienten.
Offensichtlich hatte er sich im Schlaf tatsächlich auf die Zunge gebissen. Die Meinungsverschiedenheit mit Catherine hatte ihn mehr aufgewühlt, als er sich hatte eingestehen wollen. Doch was kümmerte es ihn? Warum machte er sich überhaupt Gedanken um diese Frau? Sie war seine Geschäftspartnerin – und aus! Er war nicht für ihr Seelenheil verantwortlich und sie nicht für seines .
Mit beiden Händen klatschte er sich kaltes Wasser ins Gesicht, um wieder zu Verstand zu kommen und die
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