Nachtmahl im Paradies
wirren Träume zu vertreiben, die noch immer wie um ein Lagerfeuer tanzende Schatten in seinem Hirn herumspukten. Er öffnete das Fenster. Sofort blies ein warmer Sommerwind in das kleine, weiß-blau gekachelte Zimmer. In den vergangenen Jahren – den Jahren ohne Elli – hatte er nicht nur mehr und mehr verlernt, den Sommer zu lieben, so wie es früher einmal gewesen war. Nein, er war dazu übergegangen, ihn regelrecht zu verabscheuen.
In keiner anderen Jahreszeit sah er so viele Menschen, die ein Lächeln im Gesicht trugen. Alle schienen glücklich zu sein. Alle – außer ihm. Er wünschte sich ein Heim, eine Familie, nicht mehr einsam sein zu müssen, aber gleichzeitig konnte er sich nicht mehr vorstellen, noch einmal ganz von vorne anzufangen, ohne Elli. Sie hatte sich Kinder gewünscht, hatte aber keine bekommen können. Doch das hatte sie und ihn nur noch mehr zusammengeschweißt. Wenn jedoch ein Teil eines so perfekten Ganzen stirbt, wenn es herausgelöst wird aus diesem Ganzen, ist auf einmal auch der Rest des Ganzen nichts mehr wert.
Elli und er hatten einem leichtläufigen Fahrrad geähnelt – fröhlich lackiert in allen nur denkbaren bunten Farben des Sommers. Natürlich läuft auch ein Fahrrad nicht immer rund, sondern mal besser und mal schlechter. Manchmal geht einem der beiden Reifen sogar die Luft aus, weil sich ein scharfer Splitter in seine Haut gebohrt hat. In diesem Fall muss man den Reifen mit viel Liebe und Ausdauer verarzten, seine Wunden schließen und ihn mit guter, frischer französischer Landluft versorgen, damit er wieder auf die Beine kommt, was auch dem Fahrrad dazu verhilft, wieder auf die Beine zu kommen. Doch was, wenn das Fahrrad eines Morgens aufwacht und feststellen muss, dass es nur noch einen Reifen hat? Dass der andere über Nacht verschwunden ist und nach allen Regeln der Wahrscheinlichkeit nie wieder zurückkehren wird? Das … ja, das ist das Ende des Fahrrads. Ein Schaden, der irreparabel ist.
Durch die offene Tür hörte Jacques das Telefon klingeln. Ring, Ring . Er besaß noch immer den uralten Fernsprechapparat, der schon damals aus der Mode gewesen war, als er und Elli noch gemeinsam in der Wohnung über dem Paradies gelebt hatten. Das Telefon, das Auto und noch einige andere Dinge wie der Aschenbecher neben ihrem Bett, von denen nicht jeder wissen musste – Jacques hatte ein Faible für Nostalgie. Was wiederum jeder wusste, der ihn einigermaßen kannte.
Es war Patrice – oder vielmehr sein Sekretariat.
»Doktor Lellouche lässt Ihnen ausrichten, dass er bereits auf dem Weg zu Ihnen ist«, flötete Mélanie, seine Sprechstundenhilfe, die Jacques noch immer siezte, obwohl sie sich schon seit Menschengedenken kannten.
»Was soll das heißen, Mélanie?«
»Ich weiß es auch nicht, aber er hatte eine Flasche Champagner dabei, als er das Haus verlassen hat.«
»Oh Gott. Können Sie ihn noch aufhalten?«
»Äh, nein – wieso? Sollte ich?«
Jacques stutzte und fuhr sich mit der Zunge, die noch immer leicht zu bluten schien, über die Lippen.
»Nun … nein, Mélanie, es war nur so ein Gedanke. Es ist alles gut. Danke für Ihren Anruf.«
Jacques blieb kaum Zeit, ein frisches Hemd und eine Hose anzuziehen, da nahmen seine müden Augen bereits den nagelneuen Renault seines Freundes wahr, der schwungvoll auf den Parkplatz des Paris fuhr. Patrice chauffierte generell großzügige, viertürige Limousinen – selbstverständlich französische –, obwohl zu einem als ewiger Single und in der halben Normandie bekannten Weiberheld viel besser ein Sportcoupé oder ein Cabrio gepasst hätte. Doch die so langweiligen wie lang gestreckten Familienkutschen mit ihrem dezenten, nach Plastik duftenden grauen Interieur verliehen ihm ein seriöses Flair, auf das er sehr viel Wert legte.
»Ich bin kein Gastwirt, ich bin Arzt«, pflegte er immer zu sagen und eine traurige Miene dabei aufzusetzen, so als wolle er Jacques damit signalisieren, dass er das große Los gezogen hatte. Dass er tun und lassen konnte, was er wollte. Ob es Autos waren oder Frauen – einem Gastwirt nahm man nichts krumm. Bei denen war ohnehin Hopfen und Malz verloren. Ja, so war es. Das wollte Patrice eigentlich damit sagen.
Als Jacques wieder an das Fenster trat, winkte ihm Patrice von unten mit einer Flasche Champagner zu. Moët & Chandon Rosé – das zweite Mal heute. Manchmal war Jacques sich nicht ganz sicher, ob sein Freund in Wahrheit nicht homosexuell war. Das würde erklären, warum Patrice nie
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