Nachtmahl im Paradies
Jacques wollte keinen Streit riskieren, indem er bei Pierre nachbohrte, für wie gut er sich als Koch hielt. Das hatte er schon bei dessen Vorgängern getan, und am Ende waren sie alle gegangen, hatten die Arbeit verweigert oder noch schlechter gekocht als je zuvor.
»Aber ich nicht«, sagte er stattdessen. »Das Paris ist alles, was ich habe.« Er seufzte theatralisch, doch seinem Gegenüber schien die prekäre Lage des Restaurants die Suppe nicht verhageln zu können.
»Im Grunde habe ich nicht meine Hälfte verkauft, sondern nur jene, die ohnehin schon der Bank und dem Finanzamt gehört hat«, fuhr Jacques fort, sich vor seinem Chefkoch für seine Taten zu rechtfertigen.
Pierre sagte nichts und öffnete stattdessen eine Styroporkiste, in welcher sich der Lachs befand, der für den heutigen Abend angeliefert worden war. Er lag inmitten eines Mini-Eismeers, aber kaum hatte Pierre den Deckel abgenommen, stieg Jacques schon der Geruch von Fisch in die feine Nase.
»Ein frischer Fisch sollte nicht nach Fisch riechen, sondern nach Meer duften.«
»Was hast du gesagt?«, fragte Pierre geistesabwesend. Er schloss die Kiste wieder, machte einen Haken auf seiner Liste und griff dann in die Brusttasche seines weißen Hemdes, um eine Schachtel Gitanes hervorzuholen. »Du entschuldigst? Bin gleich wieder da, dann können wir weitersprechen«, sagte er und verschwand nach draußen, um einen letzten tiefen Zug zu nehmen, bevor die ersten Gäste eintrafen.
Es juckte Jacques in den Fingern, wieder nach oben zu gehen – zurück in seine Wohnung, wo sich Ellis kleines rotes Buch befand. Er wollte sich unbedingt noch in dieser Nacht daran machen, sein unvollendetes Werk – das Liebesapfelsüppchen – fertigzustellen. Ach, könnte er es doch nur für sie kochen! Was würde er dafür geben, Elli diese Nacht wieder an seiner Seite zu wissen! Das Rezept an sich war nett – nett und simpel. Aber verfeinert mit einem gestrichenen Suppenlöffel ewiger Liebe, gewürzt und abgeschmeckt mit je einer Prise Sehnsucht und Atemlosigkeit wäre es schlichtweg atemberaubend!
Leider ließ ihm die Realität keine andere Wahl, als den Gedanken an dieses Vorhaben auf die Zeit nach Geschäftsschluss zu verschieben. Marion, seine Oberkellnerin und Pierres Mal-und-mal-wieder-nicht-Freundin, die Jacques gelegentlich vertrat, hatte sich krankgemeldet. Wieder einmal plagte sie ihre chronische Migräne. Kein Wunder bei dem Freund, dachte Jacques sich, obwohl er ahnte, dass dieser Gedanke über seinen Kompetenzbereich als Arbeitgeber hinausging und dass die Gewerkschaft besser nicht davon erfuhr.
Demnach würde er persönlich den ganzen Abend im Restaurant und auf der Terrasse zugegen sein und die Gäste unterhalten müssen, denn er war der Maître und damit der öffentliche Showbestandteil, den jedes ansprechende Restaurant seinen Gästen bot. Der Maître wusste alles, kannte jeden Witz und konnte obendrein zaubern. Ob das alles auch auf Marion zutraf, wusste er nicht. Auf ihn jedenfalls traf es zu.
Jacques fragte sich, ob Catherine ihn an diesem Abend wie versprochen mit ihrer Anwesenheit beehren würde – trotz ihres kleinen Streits, dessen Anlass ihm im Grunde noch immer nicht klar war. Bloß nicht mehr ihren Exmann erwähnen, notierte er sicherheitshalber in Gedanken.
Als trotz Migräne mitdenkende und umsichtige Arbeitnehmerin hatte Marion sich fairerweise – und ohne es zu wissen, versteht sich – genau den richtigen Abend ausgesucht, um sich gesund zu pflegen. Es war nicht eine Reservierung an diesem Tag eingegangen! Das war der vorläufige traurige Höhepunkt des langsamen Niedergangs seines geliebten alten Paris’ .
Um sich umzuziehen, hatte Jacques sich für fünf Minuten nach oben begeben. Als er wieder herunterkam, vernahm er Stimmen von der Terrasse, die im goldenen Sommerlicht dalag und sehnsüchtig wie er auf den am Horizont verschollenen Atlantik blickte. Eine Dreiergruppe hatte es sich bereits in Eigenregie an seinem besten Tisch bequem gemacht – in einer übertrieben nonchalanten Selbstverständlichkeit und offensichtlich ohne auch nur eine Minute darauf zu warten, dass man sie an den ihnen zugedachten Platz führte.
»Das ist ja gerade der Witz«, tönte eine Männerstimme. »Die französisch-schweizerische Grenze teilt das Bett in der Honeymoon-Suite genau in der Mitte. Nach dem … nun … nennen wir es hier einfach mal Grenzverkehr , der möglicherweise auf Niemandsland stattfindet, verschwindet der Bräutigam in die
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