Nachtmahl im Paradies
Gefühl, das Leben Hand in Hand mit ihrer einzigen wahren, großen Liebe zu verbringen – ein Wunder des Himmels, das nur wenige Erdbewohner erfahren durften. Es war nur logisch, dass man dem Leben, das ohne diese großartige Liebe fade geworden war, Adieu sagte. Auf welche Weise auch immer – nur gedanklich oder auch körperlich, mit Sack und Pack sozusagen.
»Ach, Jacques, alter Freund«, sagte Patrice und klopfte ihm über den kleinen Tisch hinweg auf die Schulter. »Glaub mir, ich habe zwar nie erlebt, was du erleben durftest, aber ich verstehe dich. Trotzdem bietet sich dir hier vielleicht eine einmalige, ich will nicht sagen letzte Chance, um zumindest deine zweite verlorene Liebe zurückzubekommen.«
»Meine zweite verlorene Liebe?«, argwöhnte Jacques.
»Das Kochen, mein Freund«, sagte Patrice und trank sein eben erst zum zweiten Mal gefülltes Glas in einem einzigen Zug leer. »Das Kochen.«
Patrice war nur wenig später aufgebrochen, weil er es vorzog, mit einer ominösen brandneuen Eroberung bei der Konkurrenz im mondänen Deauville zu speisen, anstatt draußen vor den Toren bei seinem besten Freund – jedenfalls solange dieser sich weigerte, selbst zu kochen. Jacques gesellte sich zu seinem Statthalter Pierre in die Küche, um ihn mit den aktuellen Entwicklungen vertraut zu machen. Für einen leidenschaftlichen Koch, der mit Leib und Seele lieben sollte, was er kochte, war Pierre außerordentlich hager. In seinem weißen Outfit wirkte er aufgrund seiner leicht buckeligen Haltung, mit den winzigen Augen und den schmalen Lippen, die eindeutig nicht rosa oder rot, sondern grau waren, eher wie ein Gänsegeier als wie der Chefkoch eines exquisiten Restaurants. Die grauen Lippen kamen vom vielen Rauchen – Jacques hatte ihm schon oft geraten, damit aufzuhören. Mehr als ein Laster sollte ein Mann sich nicht erlauben, auch nicht in schweren Zeiten.
Jacques hatte den Wein als solches für sich auserkoren, und auch wenn ihm durchaus klar war, dass er es damit übertrieb, war es noch immer besser, als jeden Tag eine Packung Gitanes wegzuqualmen und darüber hinaus, wie Pierre es tat, jede Nacht nach der Arbeit in seiner lieblos eingerichteten Einzimmerwohnung bis zum Morgengrauen Computerspiele zu spielen. Er selbst rauchte für gewöhnlich nicht, abgesehen von der einen oder anderen Zigarette, die er sich bei seinen Pausen auf dem Piratenmast anzuzünden pflegte – in stillem Gedenken an Elli. Indem er ein-, zweimal am Tag kopierte, was sie so sehr genossen hatte, fühlte er sich ihr nah. Im Grunde jedoch verabscheute er die Qualmerei, denn ihr war es zu verdanken, dass sich sein Leben in Luft aufgelöst hatte. In einem Zug mit Ellis. Als wäre es nicht weniger flüchtig als der gedankenlos in den Wind geblasene graue Atem einer Gitane. Bei Pierre war es anders. Selbst bei Hochbetrieb schlich er sich etwa einmal pro Stunde aus der Küche und steckte sich draußen eine an. Nebenbei bediente er sich auch noch reichlich an den teuren Brandys. Beides war nicht erlaubt, aber was sollte Jacques machen? Er konnte froh sein, überhaupt einen Koch im Haus zu haben.
»Pierre, ich wollte dir nicht vorenthalten, dass sich etwas ändern wird hier bei uns.«
Der Blick des Kochs war angestrengt auf ein Blatt Papier gerichtet, die knorrigen Finger seiner rechten Hand hatten sich eisern wie ein mittelalterlicher Schraubstock um seinen Kuli gelegt.
»Bitte nicht noch mehr Arbeit«, stöhnte er, ohne aufzusehen, während er die Liste mit den Beständen durchging. Er sah wirklich überarbeitet aus, obwohl er, was die Stunden anging, nicht halb so schwer schuftete, wie Jacques und Elli es in ihren besten Tagen getan hatten. Aber ihnen hatte die Arbeit Spaß gemacht.
»Das kann ich dir nicht versprechen, Pierre. Ich bin nicht mehr der alleinige Inhaber des Paris .«
Nun blickte Pierre doch auf. In seinen Augen war zu lesen, dass ihm die Aussicht auf Veränderung nicht gerade das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.
»Du hast … verkauft ?« Das letzte Wort sprach er so aus, als würde etwas ganz und gar Ekliges aus seinem Mund fallen – eine tote Ratte etwa, die er versehentlich verschluckt hatte.
»Was ist mir denn anderes übrig geblieben? Es war die einzige Chance weiterzumachen. Sonst wäre am Ende des Sommers Schluss gewesen«, entgegnete Jacques schulterzuckend. »Zapfenstreich. Wenn du weißt, was das heißt.«
»Für gute Köche gibt es immer Arbeit. Ich finde überall was.«
»Ja, ja, ich weiß.«
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