Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
gewöhnlicher Mann. Was soll das Geschrei deswegen?, dachte sie, sprach es aber nicht aus. Bei der Lady wusste man nie so recht. Sie konnte skrupellos und grausam sein, wenn es um ihre eigenen Belange ging, und auch bei anderen urteilte sie manches Mal seltsam streng.
»Gut«, sagte die Lady nach einer Weile. »Dennoch solltest du dir merken, dass ich es nicht wünsche, so etwas in der Zeitung lesen zu müssen. Sei in Zukunft achtsamer und sorge dafür, dass du kein Aufsehen erregst! Du wirst dir eine andere Stelle suchen und dich etwas unauffälliger geben. Und nun sage nicht, du könntest nichts für dein Aussehen und deine Wirkung auf Männer. Für wie einfältig hältst du mich? Ich weiß über deine Bemühungen Bescheid. Also beleidige mich nicht!«
Raika öffnete den Mund, doch die Lady schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab.
»Ich will keine Erklärungen oder Entschuldigungen hören. Du weißt, was ich erwarte, also halte dich daran. Du kannst jetzt gehen.«
Der Butler öffnete auf das Stichwort die Tür, und Raika blieb nichts anderes übrig, als sich mit einer Verbeugung zurückzuziehen. Innerlich schäumte sie vor Wut, doch es war nicht ratsam, das zu zeigen. Sie fühlte sich gedemütigt, was die Lady vermutlich auch beabsichtigt hatte, dennoch wussten sie beide um ihre Macht, was Raika noch mehr erzürnte. Das Beste war es, nach London zurückzukehren und die Alte zu vergessen. Solange sie dies zuließ. Ihren Ruf zu ignorieren, wenn er einen erreichte, kam nicht infrage. So konnte sie nur hoffen, dass der Name Raika lange nicht mehr im Geist der Lady herumschwirrte. Sollte sie ihn vergessen. Das würde allerdings nur geschehen, wenn sich Raika eine neue Stelle suchte und sich in Zukunft mehr zurückhielt, also genau das tat, was die Lady von ihr verlangte. Sie kickte einen Stein in die Rosenbüsche.
Verflucht!
Wenn sie eines nicht mochte, dann sich unauffällig verhalten. Und sie hatte auch nicht vor, etwas an ihrer Erscheinung zu ändern. Es hatte sie viel Kraft und Energie gekostet, bis sie das erreicht hatte, was der Spiegel ihr Tag und Nacht zeigte. Das würde sie sich von Mylady nicht nehmen lassen.
Es schmeckte zumindest wie ein kleines Stückchen Sieg, und so vergaß sie den bitteren Geschmack, den die Zurechtweisung hervorgerufen hatte. Nun gut, vielleicht war es gar nicht so schlecht, neu anzufangen. Eine neue Aufgabe, neue Kollegen, eine neue Wohnung mit netten Nachbarn? Sie lächelte in sich hinein, während sie sich auf den Rückweg in die Stadt machte.
Die Kirchturmuhr schlug. Lorena blinzelte und zählte mit. Beim elften Glockenschlag riss sie die Augen auf.
Mist, schon wieder so spät. Doch sie konnte sich nicht überwinden, die Decke zurückzuschieben und aus dem Bett zu steigen. Finley hatte sie längst verlassen. Vermutlich war er draußen, um sich selbst ein Frühstück zu fangen, wenn seine Freundin hier so pflichtvergessen den halben Samstag verschlief. Von der Straße schallten Stimmen zu ihr herauf. Ja, der Lärm der vielen Rufe und Gespräche war so laut, dass sie sich wieder einmal fragte, wie sie dabei hatte schlafen können. Lorena musste nicht aus dem Fenster sehen, um zu wissen, dass der berühmte Straßenmarkt der Portobello Road bereits in vollem Gange war. Die Händler hatten ihre Stände mit Ramsch und Antiquitäten aufgebaut, und bis zum Abend würden sich die Menschenmassen durch die Straße schieben, um zu handeln und zu kaufen oder einfach nur die Angebote zu betrachten und in der Menge zu baden.
Die nächste Viertelstunde verstrich, ohne dass Lorena Anstalten machte aufzustehen. Dann trieb der Hunger sie aus dem Bett. Wie an jedem Morgen seit vielen Jahren fühlte sie sich wie gerädert, und ihr Körper schmerzte, als habe sie überall Muskelkater. Sie reckte sich, stöhnte, schlich ins Bad und duschte ausgiebig. Ihr Vermieter beschwerte sich zu Recht über ihren Wasserverbrauch, der – wie er meinte – den einer Großfamilie übertraf, doch im Moment war ihr das egal. Hauptsache, sie wurde endlich wach.
Lorena schlurfte in die Küche, um sich Porridge zu kochen. Seltsam, als sie damals nach England gekommen war, hatte die unansehnliche Pampe, die es jeden Morgen gab, ihr Brechreiz verursacht. Heute war er morgens ihr Lebensretter, und sie konnte sich ein Frühstück ohne den warmen Haferbrei nicht mehr vorstellen.
Sie brachte Wasser im Topf zum Kochen und rührte Haferflocken darunter. Dann, als sie zu quellen begannen, goss sie heiße Milch
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