Nachtmahr - Das Erwachen der Koenigin
Die Ränder der Blätter hatten eine gelbliche Färbung angenommen, doch die Seiten waren alle noch leer. Lorena strich über das erstaunlich weiche Leder, das ihr ein warmes Gefühl vermittelte. Sie hob das Buch an ihre Nase und schnupperte. Die seltsame Komposition unterschiedlichster Gerüche ließ eine Vielzahl an Bildern in ihrem Geist aufsteigen. Sie sah ein Schiff auf den wilden Wogen des Meeres, dann einen einsamen Wanderer, der seinen Pfad durch unwegsames Berggelände suchte. Eine Frau in einem ärmlichen Haus, die vor einem rußenden Feuer saß, das nur wenig Wärme spendete …
Ihre Fantasie ging mal wieder mit ihr durch. Aber warum hatte nie jemand etwas in das Buch notiert? Es musste sehr alt sein.
Das bestätigte der Verkäufer natürlich und betonte, wie wertvoll so ein Notizbuch heute sei. Als geschäftstüchtiger Händler witterte er Lorenas Interesse und wollte das gern in barer Münze sehen.
Mit betont kühler Miene gab sie ihm das Exemplar zurück. Sie arbeitete im Haifischbecken des Wertpapierhandels. Sie wusste, wie das Spiel funktionierte.
Kaum fünf Minuten später verließ sie den Stand mit einem triumphierenden Lächeln, das alte Notizbuch, sorgsam in Seidenpapier eingewickelt, unter dem Arm. Der Händler dagegen strahlte nicht ganz so sehr, was ihr bestätigte, dass sie mit etwas mehr als der Hälfte des ursprünglich Geforderten beim realen Wert des Buchs angekommen waren. Sie hatte zwar noch keine Vorstellung, was sie damit anfangen sollte, doch für die nächste halbe Stunde versetzte sie ihre Neuerwerbung in gute Stimmung, die sie mit einem Cappuccino in einem winzigen Straßencafé genoss. Dann machte sie sich wieder auf den Heimweg, während ihre Gedanken bereits dem Abend entgegeneilten.
Es war Viertel nach acht, und Lorena hatte sich bereits dreimal umgezogen, doch so richtig zufrieden war sie mit ihrem Spiegelbild noch immer nicht. Gut, das Make-up war ihr nicht schlecht gelungen. Ein wenig mehr als die unauffällige Maske, die sie für ihre Arbeit auflegte, und doch nicht zu schrill – das hoffte sie zumindest. In der Bar würde es düster sein. Da konnte ein wenig mehr Farbe nicht schaden. Und auch ihr Haar sah ganz passabel aus, selbst wenn es nicht mehr ganz so füllig aussah wie noch am Abend zuvor. Lorena seufzte. Sie konnte ja nicht jeden Tag zum Friseur gehen!
Das Haar war mit den Strähnchen und dem neuen Schnitt ganz in Ordnung, aber was war mit der Wahl ihrer Kleidung? Darüber machte sie sich sonst nicht so viele Gedanken. Für ihre Arbeit in der Bank war das einfach: dunkelblaue und graue schmal geschnittene Kostüme, die sich glichen wie ein Ei dem anderen, mit Blusen in Pastelltönen, einfarbig oder mit dezenten Streifen, die Strümpfe mal schwarz, mal hautfarben – und natürlich die passenden Pumps in Schwarz, Blau, Grau oder seit Neuestem auch in Nude, seit Kate, die neue Prinzessin, diese in ganz England zum letzten Modeschrei hatte aufsteigen lassen. Aber was zum Teufel trug man in einer Jazzbar?
Lorena hoffte, dass sie mit ihrer Jeans, der lässigen, wollweißen Bluse und der engen Lederweste nicht negativ auffiel. Dazu trug sie die einzigen roten Pumps, die sie sich in einem Anfall von Kaufrausch zwei Jahre zuvor gekauft und noch nie getragen hatte. Das würde vermutlich Blasen geben, aber da konnte man nichts machen.
Sie holte einmal tief Luft, streichelte dem Kater zum Abschied über den Rücken und machte sich auf den Weg.
Die Bar war schon recht voll, als sie ankam, und sie hatte den Eindruck, hier würde jeder jeden kennen. Etwas verloren stellte sie sich an die Bar und bestellte ein Glas Weißwein, der ihr nicht besonders schmeckte. Sie nippte ein wenig an ihrem Glas und betrachtete die recht unterschiedlichen Menschen, die sich hier zusammengefunden hatten. Der Mann hinter der Bar schien die Karibik eben erst verlassen zu haben. Sein dunkles Haar hatte er mittels eines verbeulten Huts gebändigt, und die Haare, die ihm am Kinn sprossen, zu einem Zöpfchen geflochten. Lorena ließ den Blick bis zur Bühne wandern, die an der hinteren Schmalseite der Bar aufgebaut war. Ein Mann, dessen Hautfarbe an wärmere Gefilde als England erinnerte, packte gerade einen Bass aus und strich beinahe zärtlich über das in vielen Jahren nachgedunkelte Holz. Sein Haar war schwarz, aber glatt. Lorena vermutete, dass sich unter seinen Vorfahren verschiedene Nationalitäten vermischt hatten. Das Ergebnis jedenfalls war attraktiv, obgleich er sicher nicht mehr so
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