Nachtprinzessin
Akten waren in einem metallenen Schrank eingeschlossen. Hinter dem Schreibtisch führte eine Tür ins »Gästezimmer«, und dieses Wort war für die primitive Kammer eine sehr freundliche Übertreibung. Das Bett war ein schmales Notbett, eher als Pritsche zu bezeichnen, das in der Mitte durchhing und bei jeder Bewegung unangenehm nachfederte. Dem Bett gegenüber ein kleines Waschbecken mit lediglich kaltem Wasser, ein schmaler Schrank, Tisch und Stuhl. Wahrscheinlich waren Gefängniszellen komfortabler eingerichtet.
Neri seufzte, räumte seine Sachen aus seinem Koffer in den Schrank, machte sich ein wenig frisch und trat hinaus auf die Straße. Bis zum Abendessen waren es noch zwei Stunden. Genug Zeit, um in Giglio Porto und am Meer etwas herumzubummeln.
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Minetti wartete schon und ging Neri entgegen, als er das Restaurant betrat.
»Na, haben Sie sich schon ein wenig umgesehen? – Kommen Sie, setzen Sie sich.«
Minetti bestellte Wein und Wasser und begann augenblicklich, Weißbrot in sich hineinzustopfen. Er kaute mit vollen Backen, sodass Neri kaum hingucken konnte. Das ganze Gesicht war in Bewegung, da schienen mindestens fünfzig Muskeln Höchstleistungen zu liefern.
Die Kellnerin kam und brachte Wein und Wasser. Sie war eine rundliche Brünette mit einem Pferdeschwanz und dünnen Ponyfransen im Gesicht. In den Wangen hatte sie fröhliche Grübchen. Sie trug einen knallroten Lippenstift und strahlte übers ganze Gesicht, als sie den Wein einschenkte.
»Rosa«, sagte Minetti. »Das ist Donato Neri, ein Kollege vom Festland. Er macht hier Urlaubsvertretung.«
»Piacere! Was für eine nette Überraschung und was für ein schmucker Commissario!« Rosa lächelte und sah ihm zwei Sekunden zu lange in die Augen, bevor sie Minetti fragte: »Wie immer, Valentino?«
Minetti wandte sich an Neri. »Machen wir es nicht so kom pliziert, Donato, ich gehe hier fast jeden Tag essen. Nehmen Sie als Vorspeise auch Bruschetta?«
Neri nickte brav. »Gern.«
»Okay. Dann nehmen wir zweimal Bruschetta, dann zweimal Tortellini al Pomodoro und danach zwei Orate. Einverstanden?«
»Va bene.« Neri hätte zwar lieber ein gebratenes Bistecca als einen Fisch gegessen, denn Fisch aß er nicht gern, aber er fügte sich. Wollte nicht gleich am ersten Abend schwierig werden.
Rosa schob sich den Kugelschreiber hinters Ohr und entfernte sich mit der Bestellung. Neri sah ihr hinterher, wie sie schwungvoll und schnell einen Tisch abräumte. Er konnte sich nicht erinnern, wann ihm das letzte Mal eine Frau auf Anhieb so gut gefallen hatte.
Minetti faltete die Hände auf dem Tisch wie zum Gebet und beugte sich vor. Seine Schweinsäuglein blitzten freundlich.
»Giglio ist eine wunderbare Insel, müssen Sie wissen. Ein kleines Paradies. Wer hier mal Urlaub gemacht hat, kommt immer wieder, und ich sag Ihnen, Sie werden auch noch infiziert werden.« Er grinste. »Es gibt nicht viele Insulaner, die auch im Winter hier wohnen. Das ist schon was Spezielles. Da fährt die Fähre nur noch einmal am Tag. Wenn überhaupt.«
Bei dem Wort Fähre drehte sich Neri der Magen um.
»Meine Familie lebt seit Generationen auf Giglio. Ich kenne hier nicht nur jeden Stein, sondern auch jede Butterblume und jede Nase persönlich. Und ich sag Ihnen, es gibt schlechtere Arten zu leben.«
Ich sag Ihnen schien eine Lieblingsfloskel von Minetti zu sein.
»Probleme machen die Touristen. Die verursachen Autounfälle, verlieren ihre Brieftasche, bezahlen ihre Zeche nicht oder schlagen sich gegenseitig die Köpfe ein, wenn sie betrunken sind. Und um diesen ganzen Kleinkram müssen wir uns kümmern. Aber ich sag Ihnen, hier auf Giglio hat sich noch niemand überarbeitet. Sie nehmen den Vorfall auf, schreiben einen kurzen Bericht und fertig. Ich denke mal, das ist bei Ihnen in Ambra nicht anders.«
»Ganz genau.«
»Wie ganz genau?« Minetti guckte irritiert.
»Na, ich wollte sagen, das ist bei uns in Ambra genauso. Kriminalität haben wir so gut wie gar nicht, Schwierigkeiten machen die Touristen.«
Minetti steckte das letzte Stück Brot in den Mund. »Sehen Sie, und deshalb hab ich auch Sie als Urlaubsvertretung haben wollen. Hier auf Giglio braucht niemand das Rad neu zu erfinden. Auch nicht als Carabiniere. So einen Heißsporn aus Rom, der alles besser weiß und alles anders machen will, können wir hier nicht gebrauchen. Aber jemand wie Sie, aus so einem kleinen Ort, wo die Uhren auch anders gehen als in der Großstadt, so jemand weiß, was ich meine.
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