Nachtprinzessin
geistiger Umnachtung Münzen erbrochen hat, ist das noch lange kein Beweis, dass er die Jungs geschubst hat. Oder wollen Sie die ganze Welt verrückt machen und den einen Chinesen finden, der auf den Klippen durchgedreht ist? Mit dem Erfolg, dass Giglio als die Mörderinsel in die Schlagzeilen kommt, wo schreckliche Dinge geschehen und man lieber nicht Urlaub machen sollte? Wollen Sie die braven Leute, die hier seit Jahrzehnten vom Tourismus leben, ruinieren? Wegen so einem Quatsch? Ich lebe hier gut, ich kenne die Leute, ich kriege den frischesten Fisch und alles, was ich brauche. Und das soll – verdammt noch mal – auch so bleiben. Ich weiß, Pietro hatte die Analyse veranlasst. Er ist ein Übergenauer und hätte am liebsten jedes Blatt und jede Kakteennadel im Umkreis von hundert Metern ins Labor gebracht. Den Sand in sterile Tütchen abgefüllt und die Steine abgeklebt.« Er kicherte. »Ich hab nichts gesagt und hab ihm seinen Spaß gelassen. Ein gutes Betriebsklima ist mir immer am allerwichtigsten. Aber jetzt ist er in Urlaub, und wir beide werden nichts weiter tun, als in aller Ruhe Gras über die Sache wachsen zu lassen. Es war ein bedauerlicher Unfall, und in zwei Monaten kräht kein Hahn mehr danach.«
Neri fand das Desinteresse Minettis unerträglich und blieb hartnäckig. »Ich hab Fotos gesehen. An der Stelle stürzt man nicht so einfach ab. Da ist eigentlich ganz viel Platz.«
»Wie wär’s, wenn Sie sich heute Nachmittag den Tort antun und zu dieser denkwürdigen Stelle hinwandern? Ich warne Sie, es ist verdammt anstrengend, aber dann werden Sie sehen, dass man sich auf diesem Klippenweg alle fünfzig Zentimeter problemlos zu Tode stürzen kann, wenn man ein bisschen waghalsig oder wackelig auf den Beinen ist.«
Neri hatte die Ironie in Minettis Tonfall sehr wohl gehört und beschloss in diesem Moment, diesen Spaziergang am späten Nachmittag auf alle Fälle zu tun. Auch wenn er Spaziergänge nicht ausstehen konnte.
»Trauen Sie denn den beiden Jungs einen Selbstmord zu?«, fragte er Minetti.
»Ich traue generell jedem einen Selbstmord zu. Irgendwann ist man so fertig, dass man die Lampe ausknipst. Das geht vielleicht schneller, als man denkt. Ich hab die beiden gekannt, seit ihre Mütter sie im Kinderwagen spazieren gefahren haben. Erst haben sie zusammen gebuddelt, und dann haben sie sich irgendwann ineinander verknallt. So was gibt’s. So was passiert. Alle haben’s gewusst, und keiner hat was gesagt. Und die beiden waren unzertrennlich. Ein bisschen schräg drauf, ein bisschen anders als die anderen, und der Jüngere, Fabrizio, hatte schon ’ne kriminelle Ader. Wenn der Geld gerochen hat, hat er überlegt, wie er’s kriegt. Und da war er ziemlich radikal. Adriano hingegen war sensibler. Er war der Subtile. Der hat die Leute auch ausgenommen, wenn er konnte, aber auf die feine Art. Nachweisen konnte man den beiden nie was, und da sind auch keine Klagen gekommen. Also alles in Butter. Adriano hat zu Hause ’nen kranken Vater. Der ist seit einem Badeunfall vor zehn Jahren querschnittsgelähmt. Und fahren Sie mal im Rollstuhl auf so einer Insel spazieren. Das ist die Hölle, oder sagen wir mal lieber: Das geht gar nicht. Und ich weiß, dass der Junge Knete zu Hause abgeliefert hat. So viel, wie er konnte. War ein verdammt feiner Kerl.«
»Aber Selbstmord?«
»Was weiß ich. Was weiß ich, was einem in den Sinn kommt, wenn man schwul und verliebt ist. Die Jugend hat’s nicht leicht auf Giglio, so viel kann ich Ihnen sagen.«
Neri schwieg. Unfall? Selbstmord? Mord? Im Grunde konnte er sich nichts davon richtig vorstellen. Und das machte die Sache so spannend. Aber er spürte, dass er Minetti damit auf die Nerven ging, und bohrte nicht weiter nach.
Minetti stand auf. »Es wäre schön, wenn Sie ab vierzehn Uhr unten am Fähranleger sind. Wenn die Leute von der Fähre kommen, sind sie merkwürdigerweise alle orientierungslos. Sorgen Sie einfach dafür, dass sich das Chaos in Grenzen hält.«
Minetti wartete Neris Antwort nicht mehr ab und verließ das Büro.
Pluspunkte hatte er heute als kleiner Krauter nicht gesammelt, so viel war Neri klar, aber die Insel mit ihrem eigentümlichen Mikrokosmos begann ihn zu interessieren.
Am nächsten Nachmittag wollte er gerade in den Wagen steigen, um nach Giglio Castello zu fahren, als Rosa aus dem Haus trat, das er gerade verlassen hatte. Er sah sie vollkommen konsterniert an, denn in seinem Büro war sie nicht gewesen.
»Buonasera«, sagte sie
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