Nachtprinzessin
waren genug, waren stimmiger, und er hatte mehr bezahlt als nötig.
Er sah sich um und schlenderte langsam durch die Kirche. Direkt neben der weltberühmten Marmorkanzel stand eine deutsche Reisegruppe und hörte einem jungen Italiener zu, der gerade über den Erbauer der Kanzel, Nicola Pisano, sprach. Pisano hatte dieses Kunstwerk von 1266 bis 68 zusammen mit seinem Sohn und einigen Schülern auf einem achteckigen Grundriss ganz aus weißem Marmor gemeißelt.
Matthias hörte nur mit halbem Ohr hin. Er hasste Menschenansammlungen und wollte niemals Teil einer Gruppe sein. Was er tun wollte, tat er allein oder gar nicht. Niemals würde er sich einer Führung anschließen, auch wenn das, was er dort hören konnte, noch so interessant sein mochte.
Er schlenderte weiter. Vor der Libreria Piccolomini stand eine japanische Gruppe. Matthias wandte sich angewidert ab und ging zurück in Richtung Hochaltar.
Der junge Mann redete immer noch, und die Umstehenden hörten ihm gebannt zu. Matthias hielt nun doch einen Moment inne.
»Wie man sehen, isse die Kanzel auf neun colonne aus Granit und Marmor. Da sind gewöhnliche Sockeln, oder Sie bemerken auch die Sockeln mit Löwen, die Tiere fressen. Wechselt immer. In der Mitte isse eine Gruppe von Skulpturen von freie Künste und zeigt: Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Philosophie, Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik.«
Mein Gott, was hatte dieser junge Italiener für einen entzückenden deutschen Akzent! Matthias hatte das Gefühl, ihm Stunden zuhören zu können. Die leichten Fehler im Satzbau waren einfach nur charmant, die eigenwilligen Betonungen und das rollende R ließen Matthias schmunzeln. Wahrscheinlich hatte er, um die Sprache zu lernen, auch zu oft deutsches Fernsehen geguckt, denn dort betonten die Nachrichtensprecher konsequent die Substantive und berücksichtigten nicht den Sinn des Satzes. Matthias machten die Tagesschausprecher, denen die unsinnigen falschen Betonungen antrainiert worden waren und die offensichtlich vertragsmäßig verlangt wurden, wahnsinnig wütend. Bereits unzählige Male hatte er die Nachrichten abgeschaltet, damit er nicht vor Wut den Fernseher zerschlug, aber hier, bei diesem Italiener, fand er die hilflosen, falschen Betonungen einfach nur süß. Dieser Fremdenführer konnte es nicht besser wissen. Er war ja kein Deutscher. Das alles war nichts, was man ihm übel nehmen konnte. Und wahrscheinlich hatte er die Sätze, die er sprach, schlicht auswendig gelernt. Vielleicht wusste er gar nicht so genau, wovon er redete.
Vielleicht. Er würde es erfahren, denn der junge Fremdenführer begann ihn zu interessieren.
»Hier oben von diese parte der Kanzel Sie sehen sieben Bil der: Geburt Christi und Heimsuchung, Ankunft von Heilige Drei Könige, Auftreten Christi im Tempel und Flucht nach Ägypten, Ermordung von unschuldige bambini, Kreuzigung, Jüngste tribunale von Bösen und Jüngste tribunale von Guten.«
Es waren ja nicht nur der charmante Akzent und auch nicht das Äußere des Jungen – es waren seine weichen, fließenden Bewegungen, die Matthias elektrisierten. Wie der junge Fremdenführer seine zartgliedrige Hand hob, um locker, aber bestimmt auf die Kreuzigung zu zeigen, das machte ihm so schnell keiner nach. Dieser Junge war so entspannt und gelöst, es war eine Lust, ihm zuzuschauen. Matthias war sich sicher, dass man derart harmonische Bewegungen noch nicht einmal einem Schauspieler beibringen konnte. Entweder man hatte dieses gewisse Etwas, oder man hatte es nicht. Es ließ sich nicht erlernen.
Matthias setzte sich wieder in eine der Kirchenbänke, ließ ihn nicht aus den Augen und überlegte, wie er ihn ansprechen könnte.
Lass es!, schrie eine warnende Stimme in seinem Kopf, das Desaster mit Adriano ist noch nicht allzu lange her, und du schlitterst bereits in die nächste Geschichte. Lass es bleiben! Sprich ihn nicht an! Steh auf, geh aus der Kirche, vergiss den Jungen, und alles ist gut.
Aber Matthias blieb. Wie gern würde ich mit dir über die Flucht nach Ägypten und die Ermordung der Kinder sprechen, und noch viel lieber würde ich mit dir über das Jüngste Gericht philosophieren, amico. Dieser gewaltige Dom befreit die Gedanken. Dazu wünsche ich mir die dumpfen, eintönigen gregorianischen Gesänge der Mönche, und dann werden wir Stunden an diesem heiligen Ort zubringen. Er wird zu unserer Welt, unserem Mikrokosmos, ihn kann uns keiner nehmen. Und wenn wir anschließend zu dir oder zu mir gehen, haben wir
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