Nachtprinzessin
schrill.
Erst als sie keine Antwort bekam, fiel ihr ein, dass Ben erstens um diese Zeit noch nie im Büro war und zweitens heute seinen freien Tag genommen hatte.
»Oh Mann!«, brüllte sie, sprang auf, riss ihre Handtasche von der Rückenlehne ihres Stuhls, ließ den Briefumschlag hineingleiten, stürmte aus dem Büro und warf die Tür hinter sich zu.
Auf dem Parkplatz vor dem Präsidium musste sie ein paarmal hin und her rangieren, was sie noch zusätzlich wahnsinnig machte, und dann brauste sie zu Bens Wohnung, wofür sie trotz morgendlichen Berufsverkehrs nur knapp zwanzig Minuten brauchte.
Ben wohnte in einem Neubauviertel der Siebzigerjahre, das sie unerträglich fand. Mit Zwei- bis Fünfzimmerwohnungen. Der ewig gleiche, wenig originelle Wohnungsschnitt, Kunststofffenster, genormte Balkone, fantasielose Bäder und billige Einbauküchen.
Offensichtlich hatte Ben ihren wenig begeisterten Gesichtsausdruck bemerkt, als er sie einmal zu einem Spaghettiessen eingeladen hatte, weil die Kantine gerade renoviert wurde.
»Tja«, sagte er. »Es ist vielleicht nicht gerade hip, hier zu wohnen, und meine Wohnung ist auch kein Palast, aber immerhin sehe ich über die Stadt, und wenn ich Glück habe, erwische ich sogar ab und zu einen Sonnenuntergang. Die Heizkosten halten sich in Grenzen, die Nachbarn sind selten zu Hause, der Fahrstuhl funktioniert, und im Treppenhaus gibt es ungewöhnlich wenig Graffiti. Was will man mehr?«
»Da hast du recht«, beeilte sich Susanne, ihm zuzustimmen. »So hab ich das noch gar nicht bedacht.«
Ein weiterer Pluspunkt von Bens Wohnung war, dass auf dem Parkplatz vor dem Haus immer Plätze frei waren. Ganz egal, ob man nachmittags um fünf oder nachts um drei vorfuhr. Während Susanne manchmal eine halbe Stunde durch die kleinen Nebenstraßen ihrer Umgebung kurvte, bis sie dann doch noch einen Parkplatz ergatterte, obwohl sie die Hoffnung längst aufgegeben und überlegt hatte, am Volkspark zu parken und dann mit dem Taxi nach Hause zu fahren.
So hielt sie auch jetzt direkt vor seinem Haus und klingelte an der Haustür Sturm.
Es dauerte ewig, bis sich Ben reichlich unwillig über die Sprechanlage meldete.
»Ja?«
»Ich bin’s, Susanne. Kannst du mich reinlassen?«
»Jetzt? Bist du verrückt? Ich hab erstens frei und zweitens noch geschlafen!«
»Ich weiß. Trotzdem. Bitte, Ben, es ist wichtig!«
»Kannst du in ’ner halben Stunde wiederkommen?«
»Nein. Glaubst du, ich sitze jetzt eine halbe Stunde im Auto, nur weil du so lange brauchst, dir ’ne Jeans überzuziehen? Ben, es ist mir wurscht, ob deine Wohnung aufgeräumt ist oder nicht. Ich brauche auch keinen Kaffee. Aber ich muss mit dir reden!«
»Worüber?« Ben stöhnte.
»Müssen wir das über die Sprechanlage eines Mietshauses diskutieren, verdammt?« Susanne wurde langsam wütend. »Jetzt mach endlich auf, und lass mich hier draußen nicht rumstehen wie eine dumme Pute!«
Ben drückte auf den Summer, und Susanne schlüpfte ins Haus.
Ben trug Jeans und T-Shirt, als er Susanne die Tür öffnete. Na also, dachte Susanne, hat er es also doch noch geschafft, in eine Hose zu steigen. Wozu also der ganze Aufstand? Aber sein Gesicht war kalkweiß. Susanne ging davon aus, dass er die halbe Nacht durchgemacht hatte.
»Grüß dich, Ben, tut mir leid, dass ich dich an deinem freien Tag störe, aber wir haben mal wieder Post bekommen, und ich brauche deine Hilfe. Heute noch. Nicht erst morgen.« Sie warf ihre Jacke über einen Stuhl, der neben der Garderobe stand, wartete seine Antwort gar nicht ab, sondern ging direkt ins Wohnzimmer.
»Willst du ’n Kaffee?«, stotterte Ben und fuhr sich fast zwanghaft immer wieder mit der Hand durch die Haare.
»Gern.«
Susanne setzte sich auf die Couch und war so damit beschäftigt, den Brief unbeschadet und nicht zerknickt aus ihrer Tasche zu ziehen, dass sie im ersten Moment die Person, die in der offenen Schlafzimmertür stand, gar nicht bemerkte.
Erst als sie eine wohlbekannte, aber ungewohnt leise Stimme »Hei, Mama!« sagen hörte, fuhr sie wie von der Tarantel gestochen hoch und starrte ihre Tochter fassungslos an, die barfuß in einem übergroßen Männerhemd nur wenige Meter vor ihr stand. Und obwohl sie sich scheinbar lässig gegen den Türrahmen lehnte, wirkte sie doch wesentlich verkrampfter als sonst. Ihre Haare waren ebenso zerzaust wie die von Ben, und genau wie er wischte sie sie immer wieder beinah verlegen aus dem Gesicht. Noch nie war Susanne ihre Tochter so
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