Nachtprinzessin
ein bisschen Arbeit fürs Labor. Aber immerhin wird er ja regelrecht zutraulich. Irgendwann lädt er uns zum Kaffee ein.«
»Ich finde ihn unerträglich arrogant«, murmelte Ben und betrachtete eingehend die Haarsträhne in der winzigen Plastiktüte. »Wenn ich wüsste, wer er ist, würde ich ihm eine reinhauen. Und wenn er fragt, warum, kriegt er gleich noch eine.«
Susanne musste grinsen und stand auf.
»Gut. Jetzt wissen wir, woran wir sind. Und es geht weiter. Ich denke, wir müssen uns auf einiges gefasst machen. Ich fahr jetzt zurück ins Büro. Wir sehen uns morgen um neun im Besprechungszimmer.«
Ben stand ebenfalls auf.
»Nein, ich komme auch ins Präsidium. Gib mir ’ne Stunde, dann bin ich da.«
Susanne nickte.
»Gut. Ach übrigens, Melly … Danke fürs Entschlüsseln. Bei Gelegenheit musst du mir das mal erklären.« Susanne nahm ihre Sachen und ging zur Tür, wollte unbedingt noch etwas sagen, stand unschlüssig da, während Melanie und Ben sie abwartend ansahen.
Schließlich sagte sie nur leise »Tschüss«, drehte sich um und verließ die Wohnung.
Im Auto überlegte sie, was für Gefühle wirklich im Moment in ihrem Inneren tobten, denn so richtig wütend war sie weder auf Melanie noch auf Ben. Und dann wurde ihr klar, dass sie sich schämte. Sie kam sich vor wie eine alte, spießige Tante, die auf den Freund ihrer Tochter eifersüchtig war.
Die beiden Menschen, die ihr privat und beruflich am nächsten standen, hatten plötzlich eine intensive Beziehung miteinander.
Sie war nicht mehr der Mittelpunkt und nicht mehr die Chefin.
Sie stand außerhalb und war wieder allein.
Es begann zu regnen. Erst leicht, dann immer stärker. Als sie vor dem Präsidium anhielt, lehnte sie ihre Stirn gegen das Lenkrad und überlegte, ob sie bisher alles falsch oder alles richtig gemacht hatte.
Nach zehn Minuten war der Wolkenbruch vorbei. Ohne eine Antwort auf diese Frage gefunden zu haben, stieg sie aus und lief ins Büro.
65
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Mit sechzehn sagte ich still: ich will,
will groß sein, will siegen,
will froh sein, nie lügen,
mit sechzehn sagte ich still: ich will.
Will alles – oder nichts:
Für mich soll’s rote Rosen regnen,
mir sollten sämtliche Wunder begegnen,
die Welt sollte sich umgestalten
und ihre Sorgen für sich behalten.
Die ganze Zeit hatte er sich beherrscht, aber als in der kleinen Kapelle das Lied von Hildegard Knef laut und in erstklassiger Qualität vom Band kam, konnte er seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Er saß in der ersten Reihe und weinte jetzt hemmungslos. Die Deiche waren gebrochen, es war ihm egal, was Freunde und Bekannte dachten. Eigentlich wussten alle, wie sehr er seine Mutter geliebt hatte.
Der helle Eichensarg war ausschließlich mit grünem Efeu und roten Rosen geschmückt, unzählige Kränze und Blumengestecke bedeckten den Kirchenfußboden.
Wir werden Dich immer lieben stand in Gold auf dem seidenen Band seines Blumenschmuckes und darunter in geschwungener Schrift: Matthias und Alexander.
Alex war nicht erschienen. Der Platz neben ihm war frei, und es schmerzte ihn. Es musste jedem auffallen, dass der Enkel zur Beerdigung seiner Großmutter nicht gekommen war. Auf dem leeren Holzstuhl lag eine einsame rote Rose, die nun niemand dem Sarg hinterherwerfen würde.
Ich werde ihn mir vorknöpfen, schwor sich Matthias, was bildete der Bengel sich überhaupt ein?
Schräg hinter ihm saß Thilda, und ab und zu spürte er fast körperlich ihren brennenden Blick auf seiner Schulter. Offensichtlich wollte sie ihm irgendetwas sagen, aber er hatte keine Lust, mit ihr zu reden. Nicht heute. Nicht an einem solchen Tag, an dem einem sowieso alles über den Kopf wuchs.
Vielleicht war sie wütend, weil er die gesamte Sippe derer von Dornwald nicht extra und persönlich eingeladen hatte. Er hatte unpersönliche Traueranzeigen verschickt und wollte sich überraschen lassen, wer zur Beerdigung nach Berlin kam und wer nicht.
Auf diese Art und Weise war die Trauergesellschaft mehr als überschaubar geblieben, und es war ihm recht.
Vor dem Sarg stand ein sechzig mal vierzig Zentimeter großes Porträt Henriettes. Zur Zeit der Aufnahme war sie gerade fünfzig und wirkte wie eine außergewöhnlich schöne Frau Anfang vierzig.
Er konnte sich nicht sattsehen an ihr.
Aber schön war es doch, aber schön war es doch,
und ich möcht’ es noch einmal erleben,
dabei weiß ich genau, dabei weiß ich genau,
so was kann es doch einmal nur geben.
Als der Pfarrer über den
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