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Nachtprinzessin

Nachtprinzessin

Titel: Nachtprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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lag.

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    1986
    Als Alexander ein Jahr alt war, hatte Thilda eine regelrechte Metamorphose hinter sich. Sie war schlanker als vor der Schwangerschaft, trug freche, moderne Klamotten, und durch einen witzigen Kurzhaarschnitt wirkte sie aktiv und sportlich. Sie war eine junge Frau, die sich vollkommen neu erfunden hatte, die in engen Jeans, aber auch in Miniröcken fantastisch aussah und bei der man sich kaum vorstellen konnte, dass sie vor einem Jahr ein Kind geboren hatte.
    Auch ihre Boutique begann sich nach Anfangsschwierigkeiten durch rege Mundpropaganda gut zu etablieren. Thilda hatte offensichtlich eine Marktlücke gefunden, und der Laden warf gute Gewinne ab.
    Matthias arbeitete ebenso erfolgreich in seiner Immobilienfirma.
    Der Kühlschrank war nicht mehr leer, und sie redeten nicht mehr über Geld.
    Sie redeten eigentlich über gar nichts, weil sich keiner mehr für den anderen interessierte.
    Kurz vor Weihnachten bereitete Thilda ein aufwendiges Abendessen zu, was sie schon ewig nicht mehr gemacht hatte, und bat Matthias, mit ihr zu essen.
    Direkt nach der Vorspeise kam sie zur Sache.
    »Hör zu«, begann sie, »wir sollten einmal grundsätzlich über unsere Situation reden.«
    Matthias stöhnte innerlich auf, aber er sagte nichts.
    »Wir haben einen Sohn, der beschützt und geliebt aufwachsen soll, und dazu braucht er beide Eltern.«
    Jetzt stöhnte Matthias laut.
    »Ich weiß, solche Gespräche nerven dich, aber das kann ich nicht ändern«, fuhr sie ungerührt fort. »Du lebst in deinem Wolkenkuckucksheim und möchtest nicht gestört werden. Akzeptiert wird nur der, der mit einem lukrativen Auftrag und einem Sack voll Geld um die Ecke kommt.«
    »Worauf willst du hinaus?«, fragte Matthias scharf. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du den Nachmittag in der Küche verbracht hast, um mich beim Essen zu beschimpfen.«
    »Nein.« Thilda schnitt so winzige Stückchen von ihrem Steak, als wollte sie eine Laborprobe nehmen und einzelne Fasern in ein Reagenzglas stecken. Es fiel ihr sichtlich schwer, aber schließlich sagte sie: »Schwangerschaft und Geburt liegen ein Jahr zurück, Matthias. Es geht mir gut. Ich bin gesund und fühle mich wohler als früher. Ich habe abgenommen, meine Figur ist okay, finde ich, und ich habe keine ansteckende Krankheit. Ich bin eine Frau mit Gefühlen und Bedürfnissen, Matthias, aber du rührst mich nicht an. Du siehst mich ja nicht mal mehr an. Wahrscheinlich bemerkst du mich gar nicht, wenn ich durchs Zimmer gehe. Und so kann man natürlich auch keine Veränderungen mitbekommen. Was ist los mit dir, Matthias? Bin ich dir so zuwider?«
    Nein, zuwider war sie ihm nicht. Sie war ihm einfach nur völlig egal. Irgendwo hatte er auch am Rande registriert, dass sie jetzt besser aussah als damals, als sie sich kennenlernten, aber auch das war nicht wichtig, und er hatte es Minuten später wieder vergessen. Er dachte einfach nicht an sie. Weder wenn sie da noch wenn sie weg war. Geschweige denn, dass er sich nach ihr sehnte. Und wenn er sich vorstellte, sie in der Nacht zu berühren, wurde ihm übel. Aber er konnte beim besten Willen nicht sagen, warum.
    »Nichts ist los. Wirklich. Es ist alles in Ordnung.«
    »Ach ja? Wir leben nebeneinander her wie Bruder und Schwester, die sich gegenseitig schon lange zum Hals heraushängen. Jeder Satz, den du zu mir sprechen musst, wird zur Anstrengung. Und du fasst mich nicht mehr an, Matthias. Ist dir das aufgefallen? Seit unserer ersten Nacht im Park hat es nie wieder etwas zwischen uns gegeben. Das ist doch keine Ehe!«
    Da hatte sie recht. Aber er konnte es nicht ändern.
    »Was soll ich tun?«
    Thilda starrte ihn fassungslos an, so ungeheuerlich fand sie die Frage. Aber auch demütigend und verletzend.
    »Ich möchte, dass du aus unserem Schlafzimmer ausziehst. Ich ertrage diese Nähe nicht mehr, die keine ist. Wir werden dein Arbeitszimmer irgendwie umgestalten, sodass du da auch gleich schlafen kannst. Groß genug ist es. Wir kaufen dir ein Bett. Das kann ja nicht das Problem sein. Und ansonsten lassen wir alles beim Alten und tun deiner und meiner Familie gegenüber, als wäre alles in Butter.«
    Sie hatte einen dicken Kloß im Hals und hoffte inständig, er möge ihr widersprechen oder sich dagegen wehren, aus dem gemeinsamen Schlafzimmer auszuziehen, aber er sagte nur:
    »Das ist eine gute Idee, Thilda.«

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    Berlin, Juni 2009
    Exakt nach der akademischen Viertelstunde, also fünfzehn Minuten nach drei Uhr, fuhr Dr. Hersfeld

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