Nachtprinzessin
»Zerbrecht euch bloß nicht meinen Kopf!«
Grußlos verschwand er wieder in der Küche.
»Alex sieht ja zum Grausen aus, weißt du das?« Evi schüttelte nachdenklich den Kopf. »Himmel, wie ist der denn drauf?«
Thilda hatte das Gefühl, jeden Moment losheulen zu müssen. »Komm, lass uns gehen und irgendwo anders noch was trinken«, sagte sie. »Ich glaube, es war ein riesiger Fehler hierherzukommen.«
Der Abend mit Evi hatte ihr gutgetan. Zum ersten Mal erlaubte sie sich, wütend zu werden. Auf Alex, der dabei war, sich zugrunde zu richten, und auf jede hilfreich und liebevoll gemeinte Bemerkung aggressiv reagierte, und auf Matthias, der, immer wenn man ihn brauchte, in irgendeinem Sportwagen unterwegs war und durch Abwesenheit glänzte.
In ihrem Leben war kein Stein mehr auf dem anderen. Und ihr wurde klar, dass sie den Boden unter den Füßen längst verloren hatte. Sie hatte nur noch die Möglichkeit, mit aller Kraft gegen den Strom zu schwimmen.
27
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Siena, Juli 2009
Pünktlich auf die Minute, um zwanzig nach neun, begann der Radiowecker zu plärren, und wie jeden Morgen schwor sich Kai Gregori auch heute, endlich ein Gerät mit besserem, wärmerem Klang zu kaufen. Der italienische Sänger, den er nicht kannte und auch nicht kennen wollte, schluchzte und weinte mehr, als er sang, und jammerte in seinem Lied von Sehnsucht und einem Herzen, das »nicht schlagen kann ohne dich«.
Es darf alles nicht wahr sein, dachte Kai und schloss noch einmal die Augen. Zehn Minuten quälte er sich weiter, hörte, dass Staatspräsident Napolitano zum Staatsbesuch in Bulgarien weilte, dass eine Mutter ihr Kind mit einem Stein erschlagen und bei einem Zugunglück in der Basilicata drei Menschen ums Leben gekommen waren.
Stöhnend stand er auf. Sein Gaumen klebte, und er glaubte, den Grappa noch zu schmecken, den er am Abend getrunken hatte. Zu viel natürlich. Und zu einem Zeitpunkt, an dem er schon längst genug gehabt hatte. Aber das Ritual, sich am Schluss eines Tages noch unnötigerweise auf der Terrasse mit einer Grappa-Dusche die Kante zu geben, konnte er einfach nicht lassen. Vor drei Monaten war er fünfzig geworden. Hatte dieses denkwürdige Ereignis gefeiert, indem er eine Zweiundzwanzigjährige in einer Bar dazu überredet hatte, mit zu ihm zu kommen. Sie hatten es zweimal miteinander getrieben – mehr schaffte er einfach nicht, aber er fand es durchaus beachtlich für sein Alter –, außerdem hatten sie zusammen eine Magnumflasche Champagner geleert, und dann hatte er sie gebeten zu gehen. Wollte nur noch allein sein, um in Ruhe und ungestört ein neues halbes Jahrhundert zu beginnen.
Bevor er ins Bad ging, trat er auf die Terrasse. Er liebte diesen Blick auf Siena, das Beste an seiner Wohnung, die mittlerweile dringend eine Grundrenovierung nötig hatte. Die Luft war diesig, das Sonnenlicht drang noch nicht völlig durch, wartete verhalten hinter einem diffusen Schleier, um erst am Nachmittag die Hitze zu bringen.
Tief durchatmend streckte er sich, bis seine Wirbel knackten. Das war auch schon die ganze Morgengymnastik, mehr war nicht möglich. Seine dennoch sportliche Ausstrahlung verdankte er dem Umstand, dass er zwar viel trank, aber wenig aß. Das bisschen, was ich esse, kann ich auch trinken. Italienische Pasta war nicht unbedingt seine Leidenschaft, und es musste schon ein ganz besonderer, lukrativer Kunde sein, wenn er sich zu einem Menü mit mehreren Gängen überreden ließ.
Heute war er mit einem Kollegen aus Deutschland verabredet, der eine Immobilie in der Toskana suchte. Das war beinah der Supergau. Kollegen konnte man nicht täuschen und nicht überreden, Kollegen wussten alles besser, fanden immer ein Haar in der Suppe, und meistens kostete so etwas unglaublich viel Zeit und ging aus wie das Hornberger Schießen.
Was für ein grauenhafter Tag.
Matthias von Steinfeld. Er hatte ein paarmal mit ihm telefoniert und sich seine Vorstellungen angehört, aber sympathisch war ihm der Mann rein vom Hören her nicht. Klang ziemlich eingebildet, und Kai glaubte, ein leises Tölen zu hören. Was er auf den Tod nicht ausstehen konnte.
Insofern war er keineswegs interessiert an dieser Begegnung heute Vormittag um elf.
Kai Gregori hatte es perfekt drauf, wie ein junger Gott die Bürotür aufzureißen, dynamisch und jung zu wirken und allseits gute Laune zu verbreiten, auch wenn es in seinen Schläfen dumpf pochte und der Kater der vergangenen Nacht ihm selbst nach einer heißen Dusche, zwei
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