Nachtprinzessin
zweiundzwanzig Jahre alt, und Manfred Steesen, siebzehn. Beide aus der homosexuellen Szene, einer während des Liebesspiels mit einem exquisiten, weißen, aber handelsüblichen Seidenschal erwürgt, der andere wahrscheinlich auch mit einem derartigen Schal, aber das wissen wir nicht definitiv. Jochen Umlauf wurde in seiner Wohnung getötet, Manfred Steesen am Ufer des kleinen Sees im Volkspark Jungfernheide. Die reichlich vorhandene DNA des Täters, die wir in beiden Fällen aus Sperma, Haaren und Hautpartikeln entnehmen konnten, ist identisch. Wir haben es also mit ein und demselben Täter zu tun. Selbstverständlich ist die DNA gecheckt worden, es gab keinerlei Übereinstimmung mit einer bereits registrierten oder irgendwann einmal auffällig gewordenen Person.«
Ihr Hals war ganz trocken, und sie musste einen Schluck trinken. Im Raum war es still.
»Die Taten sind sexuell motiviert, wahrscheinlich lernt der Täter seine Opfer eher zufällig kennen, denn es gibt bisher keine ersichtlichen Verbindungen zwischen Täter und Opfer. Insofern müssen wir damit rechnen, dass weitere Morde stattfinden werden.« Sie atmete tief durch. »Was wissen wir über den Täter? Höchstwahrscheinlich ist er zwischen zwanzig und sechzig Jahre alt und hat ein angenehmes, sympathisches Äußeres. Er kann seine Opfer leicht zum Mitkommen überreden. Ganz gleich, ob sie sich Geld oder einfach nur einen schönen Abend versprechen. Manfred Steesen war ein Stricher, der sich einen hohen Verdienst erhoffte, Jochen Umlauf hatte keinerlei finanzielle Motivation. Offensichtlich macht der Täter einen soliden Eindruck und ist teuer gekleidet.«
»Auf der Pressekonferenz haben Sie etwas anderes behauptet«, fiel ihr eine junge Kollegin ins Wort.
»Natürlich.« Susanne war froh über diesen Einwurf. »Ich habe bewusst gelogen, um ihn zu provozieren. Er soll sich ärgern, soll in seinem Stolz verletzt sein, und vielleicht meldet er sich, um die Sache richtigzustellen. Bis jetzt ist noch nichts passiert, aber ich fand, es war einen Versuch wert.« Sie sah auf ihre Notizen und fuhr dann fort. »Ich nehme an, dass gerade jetzt irgendetwas in seinem Leben passiert ist und ihn aus der Bahn geworfen hat. Der Tod eines geliebten Menschen, vielleicht der der Mutter, eines Freundes, eines Kindes oder des Lebensgefährten. Alles gerät aus den Fugen, er ist orientierungslos. Sein Trieb ist das einzig Beständige in seinem Leben, und da brennen bei ihm alle Sicherungen durch. Aber das empfindet er so nicht, sondern er spürt nach jedem Mord eine unendliche Erleichterung, weil er die Kontrolle, die er über sein Leben verloren hat, nun plötzlich wiedergefunden hat. Er hat die Macht über einen Menschen, er bestimmt über Tod und Leben, er lässt ihn sterben, wenn er es für richtig hält. Das hilft ihm in seiner Irritation und seiner Hilflosigkeit, es gibt ihm Kraft und Zuversicht. Er ist wieder wer und kann den Alltag weiter bewältigen. In diesem psychischen Zustand muss er morden, um weiter unauffällig funktionieren zu können. Und das macht ihn so gefährlich.«
Es war totenstill im Raum. Niemand hatte das Gefühl, Susanne unterbrechen und eine Bemerkung machen zu müssen. Noch nicht einmal ein Räuspern war zu hören.
»Er hat Geld«, fuhr Susanne fort. »Existenzängste kennt er nicht, nur die Angst vor seiner Schwäche. Er ist ein einsamer Wolf und zieht auf der Suche nach einem Abenteuer, das ihn wieder stolz macht, durch die Straßen Berlins. Ein paar Blicke, wenige Sätze, und schon folgt ihm einer. Ahnungs- und bedingungslos. Gibt sich ihm hin. Das findet er großartig. Unser Täter fühlt sich allmächtig. Gottähnlich. Und das ist Balsam auf seine schwer irritierte Seele.«
Susanne sah sich in der Runde um. Die Kollegen waren an der Analyse interessiert, keine Frage, aber gleichzeitig auch ungeduldig, denn sie konnte ihnen nichts Handfestes präsentieren, worauf man eine Ermittlung aufbauen konnte. Lediglich Vermutungen.
»Jochen Umlauf kam aus Stuttgart, ist erst vor wenigen Wochen nach Berlin gezogen, um Informatik zu studieren. Er war ein Einzelgänger, relativ schüchtern, seine Kontakte an der Uni beschränkten sich auf das Nötigste. Zu seiner Mutter hatte er einen freundlichen, aber oberflächlichen Draht, im Grunde wusste sie nicht, was mit ihm los war und mit wem er verkehrte. Dicke Freunde hatte er in Berlin noch nicht, aber die Nachbarn schildern ihn als ruhig, höflich und hilfsbereit. – Manfred Steesen dagegen hat die
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