Nachtruf (German Edition)
Seit den Gesprächen mit dem Krankenhaus und der Polizei war er in Gedanken versunken.
„Möchtest du mir erzählen, was dir durch den Kopf geht?“, fragte sie vorsichtig.
Er betrachtete die Flasche Wasser in seiner Hand. „Deine Unterhaltung mit Annabelle.“
Rain legte das Messer und den Rest des Apfels auf das Tablett. Sie waren dabei gewesen, über die Dinge zu sprechen, die seine Schwester ihr erzählt hatte, als der Truck hinter ihnen aufgetaucht war. „Es geht um das Mädchen, das sie jetzt künstlich beatmen, habe ich recht? Sie erinnert dich an deine eigenen … Verletzungen.“
Trevor stellte die Flasche auf dem Nachttisch ab. Einige Minuten verstrichen, bis er etwas sagte.
„Ich weiß noch, wie ich aufwachte und an diese Maschine angeschlossen war“, gestand er. „Ein Schlauch steckte in meinem Hals und pumpte Luft in meine Lunge hinein und wieder hinaus. Das war das Schlimmste …“
Bei der Erinnerung schüttelte er den Kopf. Rain war zutiefst berührt. Endlich hatte er sich ihr gegenüber geöffnet. Sie griffnach seiner Hand und wartete darauf, dass er fortfuhr.
„Selbst als sie mich vom Beatmungsgerät genommen hatten, arbeiteten mein Verstand und mein Körper … nicht … nicht richtig. Ich konnte nicht das sagen, was ich wollte.“ Trevors Blick verfinsterte sich. „Ich habe das alles so gehasst. Die Schwäche, den Verlust der Kontrolle über mein eigenes Leben.“
„Du warst jung und stark. Du bist wieder gesund geworden“, entgegnete Rain behutsam. „Du hast eine Tragödie überlebt, die die meisten Menschen zerstört hätte.“
Aber, fragte sie sich nun, hat er das wirklich? Trevor hatte die schlimmsten äußeren Verletzungen bewältigt, doch offenbar gab es noch tiefer liegende, emotionale Wunden, die er schon viel zu lange verborgen hielt.
„Wie viel weißt du noch von dem Tag? Davon, was mit deinem Vater geschah?“
Er zuckte mit den Schultern und blickte auf ihre Finger, die sie mit seinen verschlungen hatte. „Manchmal kommen bruchstückhafte Erinnerungen hoch. Bilder in meinem Kopf.“
„Sind diese Flashbacks häufiger geworden, seit du wieder zu Hause bist?“ Rain konnte die Antwort von seinem Gesicht ablesen. Sie schob das Tablett beiseite und rutschte näher zu ihm. Sanft strich sie über seinen Rücken. Er senkte den Kopf.
„Trotz allem, was Annabelle dir erzählt hat: Ich gebe weder ihr noch Brian die Schuld. Sie haben damals getan, was sie tun mussten.“
Sie nickte verständnisvoll. „Natürlich.“
„Brian fand sie im Bad. Da hatte sie sich gerade die Pulsadern aufgeschnitten.“ Seine Stimme klang rau. Er schluckte und bemühte sich, nicht die Fassung zu verlieren. „Hat Anna dir das erzählt? Brian war erst zwölf Jahre alt. Ich hätte hier sein müssen …“
„Trevor“, murmelte Rain. „Es tut mir so leid. Für euch alle.“
„Sie hat versucht, sich umzubringen … wegen dem, was mir passiert ist.“
„Das weißt du nicht“, gab Rain zu bedenken. „Da spieltenauch noch andere Aspekte mit. Normalerweise gehen sehr viel Verwirrung und Schuld mit sexuellem Missbrauch einher – insbesondere wenn der Täter ein Familienmitglied ist …“
„Was dieser Mistkerl Anna angetan hat, war nicht ihre Schuld“, sagte er zornig.
„Nein, selbstverständlich nicht.“ Sie streichelte seinen Arm. „Aber es war auch nicht deine . Trevor, hat Anna damals eine Therapie gemacht? Nach dem Selbstmordversuch?“
„Sie war jahrelang in Therapie. Brian war wegen seiner Drogensucht ebenfalls in Behandlung.“
„Was ist mit dir? Hast du irgendwann mal mit jemandem darüber gesprochen?“
Seine Miene wurde verschlossen. „Meine psychische Gesundheit wird regelmäßig überprüft. Das macht das FBI. Eine Vorschrift.“
„Das ist nicht dasselbe“, entgegnete sie. „Sie überprüfen nur, ob du mit dem Druck umgehen kannst, den dein Job mit sich bringt. Ich meine, hast du jemals gezielt mit jemandem über deine Kindheit oder deine Verletzungen gesprochen?“
Sie konnte beinahe körperlich spüren, wie er zusammenzuckte. „Ich habe es schon zu Brian gesagt … Ich sehe nicht ein, warum ich die Dinge wieder ans Licht holen sollte. Ich brauche keine Psycho-Couch. Ich weiß, du glaubst an all das …“
„Ich glaube nicht nur an all das, Trevor. Es ist mein Beruf.“
Er schwieg und rieb mit den Händen über seine Oberschenkel.
„Wenn man nichts empfindet, kann man auch nicht verletzt werden.“ Auf ihre leisen entlarvenden Worte hin blickte er
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