Nachtruf (German Edition)
auf. „Darum hast du dich von deinen Geschwistern distanziert. Von jedem, der dich mag. Aber verstehst du nicht? Diese Distanziertheit ist keine Art, sein Leben zu führen.“
Er starrte sie lange an. Und auf einmal war sein Ausdruck ganz offen und unverstellt. Bedächtig strich er das noch feuchte Haar aus ihrem Gesicht und zog sie an sich. Rain fühlte sich getröstet von der Stärke seines Körpers und dem sauberen, seifigenDuft seiner Haut. Sie konnte ihm helfen, da war sie sich sicher. Wenn er nur früh genug mit dem Wegrennen aufhören würde, um sich selbst die Chance zu geben, wieder zu genesen. New Orleans war der Katalysator, der die lange verdrängten Erinnerungen zurückgebracht hatte. Doch was passierte, wenn der Fall abgeschlossen war? Rain vermutete, dass Trevor die Stadt so schnell wie möglich wieder verlassen würde. Bei dem Gedanken zog sich ihr Herz zusammen.
„Was ich gerade gesagt habe … Ich wollte dich nicht kränken oder deine berufliche Leistung schmälern“, begann er. „Ich kann im Moment nicht klar denken. Ich schätze, ich bin fix und fertig.“
„Dann schlaf heute Nacht hier.“ Sie streichelte über sein Kinn. „Die Alarmanlage ist eingeschaltet. Du hast den Zugangscode geändert. Du musst nicht wach bleiben und aufpassen. Alles ist gut.“
Nach einem kurzen Zögern nickte er. Er streckte die freie Hand aus und kontrollierte seine Waffe, die er auf den Nachttisch gelegt hatte. Schließlich tastete er nach dem Lichtschalter der Lampe und schaltete sie aus. Der Raum hüllte sich in Dunkelheit.
Rain war ebenfalls müde. Sie zog die Decke über sie beide, kuschelte sich an ihn und schloss die Augen. Als sie sich allmählich entspannte, zog Trevor sie an sich.
„Ich mag dich sehr, Rain“, flüsterte er. „Gott, steh mir bei, aber es ist wahr.“
Armand Baptiste schob die Hände in die Taschen seiner zerknitterten Hose. Niemand sollte sehen, dass sie zitterten. Das Kokain, das er vorhin geschnupft hatte, brachte ihn zum Schwitzen. Seine Kleider waren feucht und seine Hände klamm.
Er ging in dem großen Raum auf und ab und hinterließ mit seinen Schuhen Abdrücke in dem flauschigen Teppich. Schließlich trat er zu dem mit schweren, üppigen Vorhängen versehenen Fenster. Sorgfältig vermied er es dabei, die Tierköpfe anzusehen,die an den getäfelten Wänden angebracht waren. Ihre massiven Schädel und die scharfen Zähne wirkten Furcht einflößend. Daneben hingen blutrünstige Jagdszenen in Öl, in goldene Rahmen eingefasst, und in der Ecke stand eine mittelalterliche Rüstung und hielt Wache. Der Raum war überladen – sogar für seine Verhältnisse.
Die Ungerechtigkeit machte ihn wütend. Seine Konten waren eingefroren, und sein gemütliches Heim im French Quarter wurde rund um die Uhr überwacht. Vor zwei Nächten hatte er es gerade noch geschafft, aus einer Hintertür des Ascension zu flüchten, als die Polizei den Club durchsucht hatte. Seitdem hatte er bei den Leuten aus seiner Welt Zuflucht gesucht, die so freundlich waren, ihm Unterschlupf zu gewähren. Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand ihn anzeigen würde, um die Belohnung zu kassieren. Was er brauchte, waren Geld und eine Möglichkeit zur Flucht. Beides konnte ihm der Mann hinter dem Schreibtisch leicht beschaffen.
„Du hast dich selbst in ziemliche Schwierigkeiten gebracht, Armand. Was willst du von mir?“ Die Stimme klang vornehm, und die grünen Augen hinter den Brillengläsern blickten Armand leicht gelangweilt an. Als ob er eine Wanze wäre, die zerquetscht werden müsste.
„Ich brauche Bargeld.“ Armand zog eine Zigarette hervor und hielt sie in seinen zitternden Fingern. „Genug, um das Land zu verlassen und auch wegzubleiben …“
„Muss ich dich daran erinnern, dass die Kunstwerke keinen Zigarettenqualm vertragen? Gerade du solltest das wissen.“
Armand stopfte die Zigarette zurück in seine Tasche. Er hatte das Gefühl, jeden Moment die Beherrschung zu verlieren. Seine Welt lag in Trümmern, und man sagte ihm bloß, er solle nicht rauchen? Armand war klar, dass der Mann nur mit ihm spielte – im Raum hing schließlich noch der Geruch nach kubanischen Zigarren. Ein altmodischer Humidor stand auf dem Schreibtisch. Sein Deckel aus geöltem Holz glänzte im Licht des Kronleuchters über Armands Kopf.
„Wirst du mir jetzt helfen oder nicht?“
Die grünen Augen betrachteten ihn kalt. „Und wenn nicht?“
Armand schluckte. Aber er erwiderte den Blick. Das Kokain in seinen
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