Nachtruf (German Edition)
durch das malerische Städtchen Jeanerette gekommen. Von dort aus waren sie an Zuckerrohrfeldern vorbeigefahren, bis die idyllische Gegend nach und nach einer einsamen Marschlandschaft gewichen war. Als der Geländewagen über eine verrostete, zweispurige Brücke fuhr, starrte Rain auf den trägen, kleinen Fluss darunter, dessen Ufer von knorrigen Zypressen gesäumt war. Bis vor einer Weile war sie geknebelt gewesen. Doch plötzlich hatte Christian Carteris verkündet, sie sollten sich unterhalten. Ihre Lippen brannten noch von dem Klebeband, das er ihr vom Mund gerissen hatte.
„Wohin fahren wir?“, fragte sie nicht zum ersten Mal.
„Was habe ich dir gesagt – Geduld, meine Liebe“, erwiderte er vom Fahrersitz aus. „Warum genießt du nicht einfach die Landschaft? Wir kommen schon früh genug an.“
Eine Plakatwand ragte neben dem Highway auf. Auf dem abblätternden Plakat wurde für Hahnenkämpfe und kaltes Bier geworben, die es jeden Samstag in einem Lokal in der Gegend gab. Wieder versuchte Rain, das Klebeband um ihre Handgelenke zu lockern. Sie fragte sich, ob Alex noch lebte. Carteris hatte sie vor die Wahl gestellt – mit ihm zu kommen oder zuzuschauen, wie er dem bewusstlos auf Annabelles Küchenboden liegenden Alex die Kehle durchschnitt. Ihr Blick wanderte misstrauisch zu dem Messer, das jetzt auf der ledernen Armstütze zwischen ihnen lag.
Der Geländewagen raste an einem verfallenen, von Kudzu-Pflanzen überwucherten Gebäude vorbei. Eine Zapfsäule stand schief davor, und auf einem verrosteten Metallschild unter dem Dachvorsprung war zu lesen: LeBlancs Tankstelle und Imbiss. Die Fensterscheiben waren zerbrochen, das Fliegengitter der Eingangstür stand weit offen. Der Laden sah aus, als wäre er seit Jahren nicht mehr in Betrieb gewesen.
„Sie sind Chirurg“, stieß Rain hervor und kämpfte gegen die Tränen an. „Sie sollten eigentlich Leben retten.“
„Das habe ich auch.“ Carteris sah sie durch seine modische Sonnenbrille an. „Ich habe mehr Leben gerettet, als ich genommen habe.“
„Und das gibt Ihnen das Recht, das hier zu tun?“
Er antwortete nicht. Stattdessen fragte er freundlich: „Möchtest du eine Flasche Wasser? Ich habe Erfrischungen in der Kühlbox hinten auf dem Rücksitz.“
„Ich möchte kein Wasser.“
„Wie du willst. Du solltest aber aufpassen, nicht zu dehydrieren.“ Er warf einen Blick auf die Rolex an seinem Handgelenk, als ob er noch einen Termin hätte. Rains Aufmerksamkeit wurde wieder auf den Ring an seinem Finger gelenkt. Die Fangzähne der Schlange waren gebleckt und scharf. Sie wusste, was das war – ein Ring für den Aderlass. Tränen brannten in ihren Augen, doch sie würde bestimmt nicht weinen. Sie musste ruhig bleiben. Rain starrte aus der Windschutzscheibe. Vor ihnen glitt ein Alligator über den Asphalt, ehe er im Gebüsch am Rande der Straße verschwand.
„Warum töten Sie?“, fragte sie schließlich. Die Stille fand sie noch unerträglicher als das Gespräch. „Wenn es das Blut ist, das Sie brauchen …“
„Warum holst du es dir nicht bei der Arbeit?“ Carteris lachte leise. „Du willst doch nicht etwa, dass ich Blutkonserven aus dem Krankenhaus stehle?“
Sie schüttelte schwach den Kopf. Sie verstand seinen Humor nicht. „Was hat das alles mit mir zu tun? Oder mit meiner Mutter?“
„Ich erwarte nicht, dass du das jetzt verstehst. Aber bald wirst du es begreifen.“
Im kalten Hauch der Klimaanlage bekam sie eine Gänsehaut. Sie hatte noch immer ihre Laufshorts an, ein Top und die Sportschuhe.
„Ich habe dich beobachtet, als du heute Morgen mit Agent Rivettedas Haus verlassen hast, um laufen zu gehen“, sagte Carteris. „Bist du in ihn verliebt?“
„Nein.“
„Du lügst.“ Er nahm den Fuß vom Gas und fuhr nach links vom Highway ab. „Ich könnte mir eher vorstellen, dass du in ihn verliebt bist, als dass du mit ihm schläfst wie eine gewöhnliche Hure.“
Die Straße, auf die sie abgebogen waren, war kaum mehr als ein Schotterweg. Sie führte an einem Tümpel entlang, der von grünen Algen und Wasserlilien bewachsen war. Drei Reiher fischten in dem seichten Gewässer, doch als sich der Geländewagen näherte, flogen sie davon. Der Wagen folgte weiter dem Weg, bis sich die Umgebung in ein Sumpfgebiet verwandelte. Immer tiefer fuhren sie in den dicht bewaldeten Sumpf hinein. Es wurde immer dunkler, denn die Bäume, von denen das Spanische Moos hing, verdeckten den blauen Himmel. Der Boden war uneben und
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