Nachtruf (German Edition)
kalten, klammen Haut. Die Klimaanlage im Wagen hatte sie die ganze Fahrt über in feuchte Luft gehüllt. Flüchtig überlegte sie, ob sie womöglich einen Schock hatte.
„Warum jetzt?“, fragte Rain ängstlich. „Sie hätten mich jederzeit entführen können …“
„Bist du dir darüber im Klaren, welcher Tag morgen ist?“
„Der neunundzwanzigste Mai.“
„Und das Datum bedeutet dir nichts?“ Als sie nicht antwortete, wirkte Carteris enttäuscht. „Es ist der dreißigste Todestag deiner Mutter. Ich dachte, du wüsstest das.“
Mit einem Arm auf ihrem Rücken drängte er Rain die Stufen zur Veranda hinauf. Das Blechdach ragte ein Stück über denHolzdielenboden hinaus und bot etwas Schutz vor der brennenden Sonne, aber die Luft war noch immer heiß und schwül.
Rain hatte das Gefühl, ihre Lunge würde sich bei jedem ihrer flachen Atemzüge mit Wasser füllen. Angeekelt betrachtete sie die papierähnliche Masse in der Größe eines Basketballs, die unter dem Dachvorsprung hing. Eine Horde schwarzer Wespen summte um das Gebilde herum.
Carteris runzelte die Stirn, als er das Nest bemerkte. „Das muss verschwinden.“
Mit einem Schlüssel machte er die Eingangstür auf und schob Rain vor sich her in die Hütte. Abgestandene, heiße Luft empfing sie.
„Die Hütte hat einen Stromgenerator. Ich muss ihn allerdings erst starten.“ Er ließ die Tür hinter ihm offen, sodass etwas frische Luft in den Raum drang. Mit einer Handbewegung wies er auf eine kleine Klimaanlage, die unter einem der Fenster angebracht war. „Es dauert ein paar Stunden, bis es kühler wird. Wir haben auch eine Toilette und einen Campingherd. Etwas rustikal, doch ich denke, wir werden uns hier wohlfühlen.“
Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, betrachtete Rain ihre Umgebung genauer. Eine karierte Couch mit einem Beistelltisch stand in dem Zimmer, ebenso ein Bücherregal aus rohem, unbehandeltem Holz. Ein metallener Waffenschrank stand in einer Ecke, neben einem steinernen Kamin. Überraschenderweise wirkte das Innere der Hütte so … normal.
Aber plötzlich stockte ihr der Atem. Carteris war hinter ihr hereingekommen und stand so dicht hinter ihr, dass sie seinen warmen Atem spürte. Schweiß rann ihren Nacken herunter. Er löste das Gummiband, das ihr Haar zusammenhielt. Die Haare fielen auf ihre Schultern herab. Behutsam fuhr er mit seinen Fingern durch die Locken. Rain biss sich auf die Lippen, um nicht aufzuschreien.
„So ist es viel besser.“ Den Mund an ihrem Ohr fügte er hinzu: „Da ist etwas in dem Bücherschrank, das du vielleicht sehen möchtest.“Rain bewegte sich mit weichen Knien auf das Regal zu, erleichtert, dass sie auf Abstand zu ihm gehen konnte. Auf Augenhöhe standen einige gerahmte Fotos im Regal. Sie trat näher. Ihr Herz schien einen Schlag lang auszusetzen. Das Bild in der Mitte zeigte die junge Desiree. Sie trug eine Jeansschlaghose und ein bauchfreies Top. Ein Mann stand neben ihrer Mutter. Doch es war nicht Gavin Firth. Der Mann auf dem Foto war Christian Carteris.
„Deine Mutter war meine erste und einzige Liebe“, erklärte er. „Ich war ein paar Jahre älter als sie und beendete gerade mein Grundstudium, als wir uns kennenlernten. Sie brach mir das Herz, als sie sich für deinen Vater und gegen mich entschied.“
Rain drehte sich zu ihm um. Das kann nicht sein. Wenn ihre Mutter noch leben würde, wäre sie achtundfünfzig Jahre alt. Sie betrachtete Carteris’ faltenloses Gesicht und seine straffe, trainierte Statur. Er war höchstens zweiundvierzig oder dreiundvierzig.
„Das ist nicht möglich“, entgegnete Rain. „Selbst mit plastischer Chirurgie …“
„Blut ist das Lebenselixier.“ Er trat einen Schritt näher. Ihre Augen huschten zu dem Messer in seiner Hand. „Du hast mich gefragt, warum ich keine Blutkonserven aus dem Krankenhaus stehle. Das Blut muss frisch sein, Rain. Es muss direkt von einer Lebenskraft auf die andere übergehen.“
Sie unterdrückte einen Schrei, als er nach ihren gefesselten Händen griff. Langsam durchschnitt er das Klebeband. Dabei ritzte die scharfe Klinge die Innenseite ihres rechten Handgelenks, und Blut quoll hervor. Rain fuhr vor Schreck zurück.
„Ich wollte dich nur befreien“, sagte Carteris entschuldigend. Er zog das Klebeband ab und betrachtete den Schnitt. Dann hob er ihr Handgelenk an seinen Mund und leckte den Blutstropfen ab. Sie stand wie gebannt da. Ihr klopfte das Herz bis zum Hals.
„Alter spielt für mich
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