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Nachtruf (German Edition)

Nachtruf (German Edition)

Titel: Nachtruf (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leslie Tentler
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keine Rolle. Verstehst du jetzt, Rain?“
    Der Raum um sie herum drehte sich. Verzweifelt versuchte sie, die Orientierung nicht zu verlieren. Carteris packte sie ander Taille und hielt sie fest. Das geschieht nicht wirklich. Es war egal, was sie auf dem Foto gesehen hatte. Sie musste ihn dazu bringen, weiterzureden. Was auch immer er mit ihr vorhatte, sie musste ihn so lange wie möglich davon abhalten.
    „Warum nennen Sie sich Dante?“, fragte sie. Ihre Stimme klang vor Angst schriller als gewöhnlich. Sie legte ihre Hand auf seine Brust und schob ihn weg, um mehr Abstand zwischen sich und ihn zu bringen.
    „Kennst du dich mit Dante Alighieri aus? Dem italienischen Dichter, der die Göttliche Komödie geschrieben hat?“
    Rain kramte angestrengt in ihrem Gedächtnis nach dem Buch, das Dantes Reise durch Hölle, Fegefeuer und Paradies beschrieb. „Dantes Inferno?“
    Er strich ihr über das Haar. Dabei ruhte sein Blick auf ihrem Mund. „Desiree war meine Beatrice. Sie war dazu bestimmt, meine Gefährtin für die Reise durchs Leben zu sein. Aber nichts von dem spielt in diesem Moment eine Rolle, habe ich recht?“
    Das Zittern, das ihren Körper erfasst hatte, wurde immer stärker. Carteris zog seine Hand von ihr fort und ging zu der Durchreiche, die die zweckmäßige Küche vom Hauptraum trennte. Er begann, die Ledertasche zu durchsuchen, die er mit hineingebracht hatte. Rain schätzte die Entfernung zur offenen Tür der Hütte ab. Sie bereitete sich darauf vor, loszurennen und die Chance zu nutzen, dass sie vielleicht schneller war als er. Doch ihre Hoffnung wurde zunichtegemacht, als Carteris sich wieder zu ihr umdrehte. Er hielt eine Spritze in der Hand.
    Sie wich zurück, als er einen Schritt auf sie zu machte, aber das Bücherregal stoppte sie. „Bitte, tun Sie das nicht!“
    „Du bist erschöpft“, betonte er und kam noch näher. „Ich möchte dir nur helfen, einzuschlafen. Die Dinge sehen ganz anders aus, wenn du ausgeruht bist.“
    „Bleiben Sie mir vom Leib!“
    „Entspann dich.“ Er blickte sie an, als käme er zur Visite ans Krankenbett. „Ich bin Arzt, schon vergessen?“
    Rain versuchte, sich aus seinem Griff zu winden, doch er warweit stärker als sie. Sie schrie und kratzte an seinen Handgelenken. Als die Nadel ihre Haut durchstach, schluchzte sie auf. Carteris beschwichtigte sie, hielt sie wieder dicht an sich gepresst, während er den Inhalt der Spritze in ihre Vene drückte. Und er hielt sie so lange, bis ihr Kopf nach unten sackte und ihr Körper schlaff wurde.
    „Trevor“, hörte Rain sich flüstern.
    Sie spürte seine Lippen auf ihrer Stirn. „Alles zu seiner Zeit.“
    Ihr Widerstand wurde immer schwächer und unkoordinierter. Was immer er ihr gespritzt hatte, es wirkte äußerst schnell. Er hob sie hoch.
    „Ich habe ein Zimmer für dich vorbereitet, Kleines.“ Carteris trug sie durch die drückend heiße Hütte nach hinten. Das Zimmer hatte kein Fenster, und nur durch die Tür zum Flur drang spärliches Licht hinein. Matt blickte Rain sich um. Der feminine Einrichtungsstil wirkte vollkommen fehl am Platz. Seltsamerweise kam Rain das schmiedeeiserne Kopfende des Bettes vertraut vor. Und der alte Frisiertisch mit seiner runden Zarge und dem ovalen Spiegel ebenso. Auch die Überdecke aus Chenille.
    Er legte sie auf das Bett und strich ihr die feuchten Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ihre Zunge fühlte sich zu geschwollen an, um sprechen zu können, ihre Glieder zu schwer, um sich bewegen zu können. Ein Stofftier saß neben ihr. Es war ein pinkfarbener französischer Pudel mit einem Halsband aus Glaskristallen und ausdruckslosen Knopfaugen. Sie war benommen und konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, aber sie kannte diesen Ort von irgendwoher. Das Bild dieses Raumes war tief in ihren frühesten Erinnerungen verborgen. Der Duft von Rosen und Sandelholz umwehte sie und erzeugte eine bittersüße Sehnsucht nach vergangenen Tagen.
    Carteris zog sich aus dem Zimmer zurück und schloss die Tür hinter sich. Sie hörte, wie er den Riegel vorschob und einrasten ließ.
    Rains Verstand trieb dahin. In ihrer Kindheit war die Tür imoberen Flur immer verschlossen gewesen. Doch wann immer es ihr gelungen war, hatte sie sich in das Zimmer geschlichen und mit den Sachen ihrer Mutter Verkleiden gespielt. Sie erinnerte sich an die Parfumflasche und den exotischen Duft, der von ihr ausgegangen war, wenn sie den Verschluss geöffnet hatte. Der Duft hatte sich in ihrem Gedächtnis eingenistet –

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